Zur ausreichenden Zahl an Pflegekräften ist folgendes zu sagen:
Bekanntlich befindet sich Deutschland seit den 1960er Jahren im Pflegenotstand. In dieser Zeit wurde der Begriff geprägt. Seitdem wurde immer wieder mal in den Medien über dieses Problem berichtet. Die Politik hat erst sehr spät mit Maßnahmen reagiert (Einführung der Akademisierung der Pflege, generalistische Berufsausbildung), hat bis heute aber keine entscheidenden Wege beschritten, um den Pflegenotstand zu beheben. Entscheidend waren die bislang getroffenen Maßnahmen deswegen nicht, weil sich bis heute einfach nichts geändert hat, wie allenthalben belegt werden kann. Das Personalproblem bleibt nach wie vor bestehen. Im Gegenteil, es verschärft sich zunehmend drastischer, da wegen der demografischen Entwicklung immer mehr Menschen pflegebedürftig werden. Diese Entwicklung war wie der Personalmangel in der Pflege ebenfalls seit Jahrzehnten absehbar. Der daraus erwachsenden Diskrepanz (zwischen Pflegebedarf und Anzahl an Pflegekräften), die genauso lange absehbar ist, wird bis heute immer noch nicht entschieden entgegengetreten.
Über diese Tatsachen wird im Fernsehen in Nachrichten, Reportagen und Dokumentationen von Zeit zu Zeit immer wieder mal berichtet. Auch auf anderen Informationskanälen, z. B. in Zeitungen, Radio oder Internet, werden die Bürger darüber informiert. Trotzdem werden diese Fakten stillschweigend hingenommen und die Zuspitzung der sich weiter verschlechternden Versorgungslage wird tatenlos abgewartet.
Der BARMER-Pflegereport 2020 beschreibt die Belastungen der Pflegekräfte durch die schlechten Arbeitsbedingungen (Schwerpunkt Altenpflege) und ihre Folgen. Im Jahr 2005, also 15 Jahre zuvor, hat z. B. Michaelis über Pflege als »extreme Verausgabung« geschrieben und dazu arbeitssoziologische Aspekte beleuchtet. Auch in den 1990er Jahren wurden schon viele Studien und Berichte über physische und psychische Belastungen in der Pflege und über ihre Folgen geschrieben und veröffentlicht (z. B. Hofmann et al., 1998; Karasek & Theorell, 1990; Estryn-Buhar et al., 1990).
Die folglich seit Jahrzehnten bekannte Problematik der schlechten Arbeitssituation für Pflegekräfte ist bis heute unverändert. Im Gegenteil, sie hat sich durch die stetig abnehmende Zahl an Pflegekräften auf dem Arbeitsmarkt noch verschärft und wird sich auch noch weiter zuspitzen wegen der gleichzeitig weiter steigenden Zahl an Pflegebedürftigen.
Der Druck für die weiterhin im Pflegeberuf Tätigen ist enorm gestiegen und wird noch weiter steigen. Erstens werden sie massiv zu ökonomischem Arbeiten gezwungen. Das drückt sich nicht nur darin aus, dass Material und Ressourcen gespart werden müssen und deshalb z. B. auf schlechtere Qualität zurückgegriffen wird und der Verbrauch eingeschränkt wird, sondern vor allem in der Zeit für die Patientenversorgung, die immer knapper bemessen wird. Zweitens müssen die aktuell noch Pflegenden die Personalengpässe auffangen, was teilweise auch zu zusätzlichem Zeitdruck bei der Durchführung der Pflege führt und teilweise zur extremen Anhäufung von Überstunden. Die wachsende Arbeitslast muss auf immer weniger Schultern verteilt werden. Dauerhaft solchen Druck auszuhalten, bedeutet für die Pflegenden im Arbeitsalltag unglaublichen Stress. Diese Arbeitssituation ist unzumutbar und hätte unbedingt vermieden werden müssen.
Aus der Tatsache der unverändert schlechten Arbeitsbedingungen ergibt sich als einzig logische Konsequenz die Notwendigkeit zu einschneidenden Veränderungen. So müsste die Politik in ihrem eigenen Interesse, im Interesse unserer Gesellschaft und im Interesse der Pflegekräfte schnellstmöglich eine Angleichung der deutschen Verhältnisse an einen europaweiten Ausbildungs-, Akademisierungs- und Selbstverwaltungsstandard des Pflegeberufes erreichen. Durch die bestehenden starken Unterschiede in Ausbildung, Studium und Selbstverwaltung wird das Gefälle zwischen dem deutschen Pflegeberuf und der Situation des Pflegeberufes in Europa nicht nur deutlich, sondern es belegt die dringende Notwendigkeit einer Angleichung an internationale Standards. Eine Anhebung der Qualifizierung in manchen Ausbildungsteilen kann der Qualität der Berufsausübung nur förderlich sein. Das Gleiche gilt für die Akademisierung und für die Selbstverwaltung. Eine politisch forcierte Akademisierung und Selbstverwaltung würde dem Pflegeberuf die Chance zu einer schnelleren und dringend notwendigen Weiterentwicklung eröffnen.
Die Attraktivität des Pflegeberufes leidet stark wegen der schlechten Arbeitsbedingungen. Um den Beruf attraktiver zu machen, sind folglich Werbung und eine gute Entlohnung allein nicht ausreichend. Vielmehr müssen die konkreten Arbeitsbedingungen vor Ort geprüft und kontrolliert werden. Jede Arbeitsumgebung muss so gestaltet und angepasst werden, dass für die Pflegenden nachweislich Maßnahmen des Gesundheitsschutzes getroffen werden. Zertifikate für Arbeitnehmerfreundlichkeit, betriebliches Gesundheitsmanagement usw. sollten für Gesundheitsbetriebe auch nur dann vergeben werden, wenn sie tatsächlich alle notwendigen Anforderungen gegenüber dem Pflegepersonal erfüllen. Auch hier müssen einheitliche Standards geschaffen werden, damit grundlegende Anforderungen zwingend eingehalten werden. Kontrolle ist hierbei unumgänglich. Gesundheitsförderung für die Beschäftigten muss entweder belohnt oder im Fall der Nichterfüllung bestraft werden. Es gibt in Deutschland z. B. schon seit vielen Jahren das Netzwerk gesundheitsfördernder Krankenhäuser. Aber wie viele Krankenhäuser und Einrichtungen sind dort Mitglieder?
Inzwischen wird sehr viel für die Patientensicherheit in Kliniken und Pflegeheimen getan, nachdem klar war, dass die Sicherheit von Kranken und Pflegebedürftigen ohne Kontrolle doch zu stark gefährdet ist, dass die Korrekturen von Schäden nach Fehlbehandlungen die Kassen stark belasten und dass die Versicherungen immer öfter wegen Fehlbehandlungen leisten müssen. Es haben sich Organisationen zum Schutz für PatientInnen gegründet, z. B. das Aktionsbündnis Patientensicherheit oder regionale Netzwerke für Patientensicherheit. Genauso sollten für die Arbeitsbedingungen der Pflegenden Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen geschaffen werden, um ihre korrekte Gestaltung zu gewährleisten. Auch dadurch würde Geld gespart, denn viel weniger Pflegende würden krank werden und müssten behandelt werden. Die bekannten diversen Berufserkrankungen, die durch Pflegetätigkeiten auftreten, könnten leicht minimiert werden. Mehr Pflegende könnten durch verbesserte Arbeitsbedingungen überhaupt an ihrem Arbeitsplatz bzw. in ihrem Beruf gehalten werden.
Es steht fest, dass die Gesellschaft und die Politik ihrer gebotenen Pflichterfüllung gegenüber dem Pflegeberuf nicht nachkommen und auch nicht nachkommen wollen. Das ergibt sich aus den bisherigen Versäumnissen der letzten Jahrzehnte, aber auch aus neueren Maßnahmen. Die späte Einführung der Generalistik zu einem Zeitpunkt, wo weder genügend Lehrpersonal für eine generalistische Ausbildung vorhanden ist noch ausreichend Auszubildende für eine ausgewogene Besetzung der notwendigen Vertiefungsschwerpunkte noch ausreichend praktische Ausbildungsplätze, zeugt von fehlender Kenntnis der Sachlage und der Erfordernisse. Die Politik hält die Einführung der Generalistik zum jetzigen Zeitpunkt vermutlich für einen strategisch gelungenen Schachzug, um Pflegekräfte variabel in allen Pflegebereichen einzusetzen und dadurch Löcher in der Personaldecke zu stopfen. Diese Idee wird zu Lasten der Versorgungsqualität gehen. Sogar Auszubildende mit schlechten Noten und nachweislich unzureichenden Kenntnissen erhalten schon vor Ausbildungsende Arbeitsverträge. Dagegen wurden bisher weiterhin keine wirklich reformierenden Maßnahmen ergriffen, die die Profession Pflege unterstützt, geschweige denn weiter vorangebracht hätten. Sogar relativ einfache arbeitserleichternde oder berufsentwicklungsfördernde Maßnahmen (z. B. die elektronische Patientenakte oder das Angebot an pflegewissenschaftlichen Studiengängen sowie an Universitätsstudiengängen) wurden bisher nicht ausreichend und nicht flächendeckend durchgeführt. Der seitens der Politik angeregte, verzweifelte Versuch, die in Deutschland bestehenden Personallöcher mit ausländischen Pflegekräften zu stopfen, kann nur scheitern, da bereits zu viel Personal ausgeschieden ist und in den nächsten Jahren noch mehr ausscheiden wird, wenn die geburtenstarken Jahrgänge der 1960er Jahre vermehrt in Rente gehen. Davon abgesehen zeigt die Coronapandemie, dass in wirklichen Krisenzeiten die Pflegekräfte in ihrer jeweiligen Heimat gebraucht werden. Auch muss mit erhöhten Reisebeschränkungen im Falle einer solchen Pandemie gerechnet werden.
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