Annemarie Singer
KOPFSTAND
Wenn du keinen Boden mehr unter den Füßen spürst
ROMAN
Die Wahrheit hat viele Gesichter. Das, was gestern Gültigkeit hatte, kann heute schon nicht mehr stimmen. Sie verändert sich in dem Maß, in dem wir bereit sind, dies anzuerkennen. Sie wächst mit den Möglichkeiten, die wir in Betracht ziehen und sie gewinnt an Leichtigkeit, wenn wir akzeptieren, dass sie auch vollkommen falsch sein könnte.
Texte: © Copyright by Annemarie Singer
Umschlag: © Copyright by Annemarie Singer
Verlag:
Annemarie Singer
Innthal 1
83139 Söchtenau
annemarie.singer@web.de
www.treffpunkthollerbusch.de
Es erzählt eine Geschichte über eine Frau, die auf der Suche ist. Ich habe im Laufe meines Lebens viele von ihnen getroffen und gehöre selbst auch zu diesem Kreis. Eine Mischung aus Unzufriedenheit und Neugier treibt uns an, immer weiter zu gehen. Niemals stehen zu bleiben. Dabei wissen wir gar nicht genau, was wir eigentlich finden möchten. Uns selbst? Das große Glück? Den Sinn des Lebens? Von allem etwas, nehme ich an.
Meine Suche fand über viele Jahre im Außen statt. Doch kein Mann, keine Karriere, auch nicht Geld und Besitztümer, nichtmal Freundschaft oder Liebesglück konnten mich so füllen, dass ich dauerhaft Frieden fand.
Es bedurfte eines gewissen Alters, dass ich bereit war für die Innenschau und ich wählte dafür eine sehr abenteuerliche, unsanfte Variante, um auf dem Grund meiner eigenen Gefühlswelt anzukommen. Ich trennte mich von allem, was mir Halt und Sicherheit gab, schlug wild um mich und fand mich am Ende mit mir allein wieder. Ich hatte unwissentlich eine Reise angetreten, um endlich Heimat in mir zu finden.
Mein eigener Weg wurde zur Vorlage für dieses Buch. Nichtsdestotrotz möchte ich betonen, dass es ein Roman ist, mit frei erfundenen Figuren und Charakteren und eventuell auftauchende Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, der Interpretation des Lesenden entspringen.
Es war einer dieser Momente, die sich tief einprägen. Man erinnert sich nicht nur an die Geschichte selbst, sondern man kann jederzeit abrufen, welchen Geruch man in der Nase hatte, welche Lichtverhältnisse herrschten, ob es kalt oder warm war und sogar welchen Geschmack man im Mund hatte. Es dauerte nur ein paar Minuten und passierte in jener Art von stiller Präsenz, die alles, was nicht zu diesem Augenblick gehört, verschwinden lässt. Die Welt bleibt einfach stehen, hört auf sich zu drehen. Da gibt es keinen Platz und keine Zeit mehr für Gedanken. Ich hatte bisher nicht viele Erlebnisse, an die ich mich in einer solchen Intensität erinnern konnte. Und auch wenn es hier keine Momente des Glücks zu erleben gab, so bin ich doch sehr dankbar, dass ich dabei war und möchte es bis heute nicht missen.
Meine Schwester und ich blieben die Nacht über im Krankenhaus, weil der Arzt bereits am Vortag sagte, dass sie nur noch wenige Stunden leben würde. Meine Mutter war 90 Jahre alt und nach einem Schlaganfall ohne Bewusstsein. Bei Außenstehenden sagt man in solchen Fällen, dass es in diesem Alter Zeit ist, zu gehen, und dass der Tod zum Leben gehört. Wir wissen alle, dass das so ist und es war nicht meine erste Berührung mit dem Tod. Doch in Verbindung mit meiner Mutter warf er mich total aus dem Gleichgewicht. Sie hatte sich die letzten Wochen verändert und auch wenn die Nachricht, dass sie sterben würde, nicht vollkommen überraschend kam, war meine erste Reaktion Panik. Dass sie diese eine Nacht noch durchhielt, war wie ein Geschenk für mich. Sie war nicht mehr ansprechbar und doch gab es mir Zeit, mich in der Situation zurechtzufinden. Zu sagen, ich hätte begriffen, was da gerade passierte, wäre wahrscheinlich übertrieben. Ein Schwebezustand, der so irrational erscheint, so weit weg von dem, was wir mit dem Verstand erfassen können. Der Tod hat etwas Dramatisches, Unfassbares und unausweichlich Endgültiges. Natürlich konnte ich mich mit dem Gedanken trösten, dass meine Mutter in meinem Herzen weiterlebte, nur dass sie eben nicht mehr aktiv auf mich und meine Entscheidungen Einfluss nehmen konnte, sondern ihre Rolle in meinem Leben zukünftig aus dem bestehen würde, was ich in meinen Erinnerungen an sie zulasse. Doch hatte ich das in gewisser Weise nicht immer schon gemacht? Ich meine, jemand sagt oder tut etwas, und wie viel unserer Wahrnehmung ist dann tatsächlich im Sinn unseres Gegenübers und wie hoch ist der Anteil, der durch unsere vorgefertigte Meinung oder Denkweise festgelegt wird? Ich fragte mich, wie groß der Einfluss meiner Mutter auf mich tatsächlich war und wie sehr sie mein Leben mit ihrer Persönlichkeit, mit all dem, was sie ausmachte, prägte. Was gab sie mir mit auf meinen Weg, mit welchen Worten hat sie mich berührt und was bewirkten ihre Taten in mir?
In meinem Fall sollte ich wohl auch fragen: Was machten all ihre Geheimnisse und unausgesprochenen Worte mit mir? Ich habe nur sehr wenige Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre und trage das Bild eines sehr traurigen Kindes in mir. Woher das kommt und warum es mich so beschäftigt, werde ich jetzt wohl nicht mehr klären können. Vielleicht hätte sie mir auch nicht weiterhelfen können, doch dass ich nicht irgendwann versucht hatte, mit ihr darüber zu sprechen, bereue ich sehr.
Welche der Geschichten und Wahrheiten, die ich in mir trage, entsprechen den Tatsachen und welche habe ich mir ausgedacht? Es gibt so wenige Antworten in meinem Leben und das Nichtwissen verunsicherte mich sehr. Was ich aber ganz sicher weiß, ist, dass der Geist meiner Mutter auch nach ihrem Tod noch eine ganze Weile in mir nachhallte und sich sehr lebendig anfühlte.
Wer war sie also, diese Frau, die mich geboren hat? Ich kenne natürlich die Eckdaten ihres Lebens und die großen Ereignisse. Doch die Kleinigkeiten und Feinheiten dazwischen, das, was eine Geschichte zum Leben erweckt und erzählt, wer sie wirklich war, das liegt für mich im Verborgenen. Sie war mir sehr wichtig und wir haben die letzten Jahre vor ihrem Tod viel Zeit miteinander verbracht. Trotzdem sprachen wir nie über ihr Leben, über ihre Träume und Emotionen. Warum nicht? Ich weiß es nicht. In unserer Familie wurden keine Gefühle gezeigt. Nicht im Positiven und auch nicht im Negativen. Es wurde laut geschrien und eine Türe zugeknallt, aber zu sagen, ich sei traurig oder verletzt – vollkommen undenkbar. Wir sagten uns auch nicht, dass wir uns gerne haben. Wirklich Persönliches wurde nicht besprochen und deshalb kam es mir nicht in den Sinn, meine Mutter nach dem zu fragen, was unter der Oberfläche steckte, nach ihren Ängsten und Wünschen, ihrer Leidenschaft und Freude. Vielleicht hat es mich in jüngeren Jahren nicht interessiert oder ich hielt es nicht für möglich, dass sie neben ihrem Muttersein auch eine Frau aus Fleisch und Blut war mit dem Anspruch auf ein eigenes Leben. Als ich älter wurde und all die Fragen in mir hatte, fand ich die Worte nicht. Ich hatte Hemmungen, es anzusprechen und ein wirkliches Gespräch wäre mir mehr als unangenehm gewesen.
Diese Art des „Nicht-Sprechens“ in meiner Familie sorgte dafür, dass ich einen Teil meines Selbst unterdrückte, und das verursachte eine große Einsamkeit in mir. Ich war traurig und konnte mich niemandem anvertrauen, zumal ich den Grund für die Traurigkeit ja gar nicht benennen hätte können. Die Möglichkeit, über ein Gefühl, das über das körperliche Maß hinausgeht, zu sprechen, war für mich schlichtweg nicht vorhanden. Ich entwickelte einen Mechanismus, der mich vor bestimmten Gefühlen und Ereignissen die Augen verschließen ließ. Nur nicht hinschauen oder, gar noch schlimmer, etwas aussprechen und einen Konflikt erzeugen. Der einzige Weg, den mein System zuließ, hieß „Schotten dicht und durch“. Das war für mein Umfeld ein Freifahrtschein, weil es mich vollkommen wehrlos machte. Ich ließ Dinge einfach geschehen und fand in meinem Kopf immer die entsprechenden Erklärungen oder Entschuldigungen dafür. Ich habe diese Strategie so viele Jahre lang geübt, dass sie mir in Fleisch und Blut überging. Alles, was mir widerfuhr, egal, ob gut oder schlecht, wurde von mir hingenommen.
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