Lea Singer - Der Klavierschüler

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Zürichsee im Vorfrühling 1986. Ein erfolgreiches Leben soll gewaltsam beendet werden. Begründung: Ausweglosigkeit. Da sabotieren ein paar Minuten Musik die Vollstreckung. Es beginnt eine Flucht ins Leben hinein. Ein Barpianist lotst den Mann, den Schumanns Träumerei rettete, auf eine Reise in die Vergangenheit – zu dem angstvoll gehüteten Geheimnis eines Jahrhundertpianisten. 1937 hatte Vladimir Horowitz in der Schweiz eine Affäre begonnen, mit der er seine ganze Karriere und seine Ehe mit Toscaninis Tochter aufs Spiel setzte. Vor sieben Jahren stieß Lea Singer auf brisante unveröffentlichte Briefe von Vladimir Horowitz an einen jungen Schweizer namens Nico Kaufmann. Der begabte Sohn aus gutbürgerlichem Haus wurde 1937 sein erster Klavierschüler und sein Geliebter. Als Jude verfolgt, war Horowitz Ende der dreißiger Jahre zum Aufbruch ins Exil gezwungen. Ein Trauma, aber auch die Chance, sein Leben zu ändern, sich endlich zu sich selbst zu bekennen. Fünfzig
Jahre später erzählt Nico Kaufmann, zu einem Barpianisten herabgesunken, einem Unbekannten von dieser Liebe und ihren nächtlichen Seiten. Er führt den Fremden zu den Luxushotels, in denen Horowitz mit ihm zwei Jahre lang seine Leidenschaft im Verborgenen lebte, und immer näher heran an die brennenden Fragen: Wie viel Mut fordert die Liebe? Und was geschieht mit dem, der seine Sehnsucht verleugnet?

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Lea Singer

Der Klavierschüler

Roman

Kampa

I

Wir sollten aufhören, über ihn zu reden, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz, als er die Autotür öffnete. Sonst sind wir außerstande, unseren Auftrag auszuführen.

Du hast recht, sagte der hinter dem Steuer. Wir sollten damit aufhören.

Dann standen sie beide neben dem Wagen, einer rechts, einer links davon, und schauten hinunter zum Haus, seinem Haus. Es lag direkt am rechten Ufer des Zürichsees, dem besonnten Ufer, ziemlich in der Mitte, Gemeinde Meilen. Der See streckte sich reglos aus, die Bäume waren nackt, all das Bunte der warmen Jahreszeiten war weggewischt. Es war trocken, hell war es nicht, aber die Reinheit blendete; beide konnten den Blick nicht wenden.

Orson Welles hat seine Geliebte Rita Hayworth den Freunden schlafend in seinem Bett vorgeführt, sagte der Mann vom Fahrersitz. Schlafend, nackt, unfrisiert, ungeschminkt. Er wollte, dass die Schönheit seines Besitzes ihnen die Sprache verschlug. Und alle packte der Neid. Alle wollten so etwas haben.

Und – was hat es ihm letztlich geholfen?, fragte der Beifahrer.

Wem geholfen? Sprichst du von Orson Welles oder von ihm?

Von ihm. Orson Welles starb meines Wissens eines natürlichen Todes.

Sie starrten schweigend auf den See und das Haus am Ufer, zur Landseite hin eine gestreifte Festung aus Travertin und Granit. Lange zweieinhalb Stunden waren sie von Ascona, ihrem letzten Auftrag, durch Straßengischt unterwegs gewesen, zweieinhalb Stunden, in denen es nur um ihn gegangen war. Sie kannten die Stationen seines Lebens, als wären sie die Strecke täglich mit der Straßenbahn abgefahren. Diese Strecke aber hatte kein Gleis. Ein Woher, kein Wohin. Sein Leben sei nur eine Flucht gewesen, hatte er selbst einmal gesagt. Wer es von außen kannte, verstand das nicht. Der Aufstieg des Reto Donati war einer für das Musterbuch, gradlinig hatte er von ganz unten nach ganz oben geführt, ohne den kleinsten Knacks. Vom Kind zweier Tessiner, Maronibrater hießen sie damals, nach dem Krieg auf Arbeitssuche hergezogen, Eineinhalbzimmerwohnung mit Bad-Küche im Zürcher Kreis 4, Klo auf der Treppe, Mutter Kunststopferin, Vater Hilfsgärtner, aufgestiegen zum Einserjuristen, welterfahrenen Diplomaten und nun zum designierten Spitzenkandidaten für das höchste Amt im Bundesgericht.

Beide Männer zogen mit der gleichen Bewegung ihr graues Jackett nach unten. Beide rückten mit der gleichen Bewegung ihre Krawatte zurecht. Sie trugen Hemden in demselben Märzhimmelblau, obwohl sie sich nicht verabredet hatten. Dann fassten beide gleichzeitig mit der rechten Hand an ihre linke Brusttasche. Der Fahrer spürte, was in solchen Fällen zur Standardausrüstung gehörte. Der Beifahrer spürte den daumenlangen Zylinder. Braunes Glas, weiße Kunststoffkappe, weißes Etikett. Pentobarbital-Natrium. Lösliches Pulver. Nur zu Händen des Arztes. Bei Raumtemperatur lichtgeschützt lagern.

Der Inhalt würde reichen, um drei Menschen umzubringen.

Die Blicke der beiden Männer ertappten einander über dem Autodach beim Zittern. Vier Ohren hörten, was keiner sagte.

Warum bist du so nervös?

Beide hatten sie Erfahrung. Sie wussten: Man konnte die Uhr stellen. Es dauerte immer zwischen 30 und 35 Minuten. Keiner hatte bisher verweigert, das Glas zu leeren. Manche hatten gezögert, manche mussten noch einen Satz loswerden wie: Okay, let’s go.

Aber sein Fall war neuartig. Erklärte das ihre Hemmungen? Mitleid hemmte sie nicht, Mitleid hatte bei ihren Erledigungen nichts zu suchen; das war Sache der Familienangehörigen, sofern es welche gab. Sie als Ausführende mussten sogar verhindern, dass nur die geringste Dosis Mitleid in sie einsickerte. Das hätte ihre gesamte Organisation in Misskredit gebracht.

Von außen betrachtet waren alle Bedingungen erfüllt, die Aktion durchzuziehen.

Er war sich seiner Entscheidungen voll bewusst gewesen und hatte keineswegs aus dem Affekt heraus gehandelt.

Es war allein sein Entschluss gewesen.

Es gab keine Dritten, die ihn beeinflusst hätten.

Doch sein Beweggrund war ein anderer als bei allen anderen. Oberflächlich betrachtet, war es der gleiche. Aber unter der Oberfläche fehlte das Fleisch, das Fassbare.

Vom Haus herauf war der Schlag einer Standuhr zu hören. Sie kannten die Standuhr, ein Erbstück von den Tessiner Großeltern, eigentlich den Urgroßeltern, nicht schön, nur alt; ein Hilfeschrei nach Gemütlichkeit, die der Hausherr sich sonst untersagt hatte. Die Schläge waren genau zu hören, offenbar stand ein Fenster offen. Beim elften Schlag setzten sich die beiden in Bewegung. Nebeneinander gingen sie die Treppe durch den Garten hinab, im Takt der verklungenen Schläge. Ein japanischer Garten, der mit Kies und Moos und seinen kriechenden, krüppeligen Nadelhölzern fremdelte mit dieser Umgebung.

Als der Beifahrer den Finger auf den Chromknopf neben der Haustür legte, bemerkte er, dass die nur angelehnt war. Wollte er es ihnen leichter machen? Oder sich selbst? Wollte er das Ganze beschleunigen?

Es roch unbewohnt. Ich bin ungern hier. In Venedig fiele es mir leichter, hatte er gesagt.

Das kümmerte die beiden nicht, durfte sie gar nicht kümmern. Hier, auf Schweizer Boden, musste der Weitgereiste sterben, andernfalls würde es Ärger geben. Nicht nur für sie beide, für ihre ganze Organisation, die seit ihrer Gründung vor vier Jahren diskret und fehlerfrei Auftrag für Auftrag erledigt hatte.

Sie kannten das Haus von ihrem letzten Besuch. Es war ein absolutes Haus, das Unordnung, Schmutz und Abnutzung nicht kannte.

Der Tisch in der Mitte des Esszimmers glänzte schwarz und nackt. Die Tür zum Schlafzimmer nebenan stand halb offen. Das Bett gähnte weiß und leer. Das Wohnzimmer wirkte wie aus einer Designmöbelausstellung, keinerlei Spuren von Leben auf dem weißen Leder.

Die beiden hätten es sich sparen können, die übrigen zwanzig Türen zu öffnen und in die übrigen zwanzig Räume zu starren. Beim Öffnen der ersten drei, vier Türen geisterte in ihnen noch die Vorstellung herum, auf seine Leiche zu stoßen, von der Decke baumelnd, vor blutverspritzter Wand auf dem Boden liegend, in rotem Badewasser dümpelnd. Aber bald wusste etwas in ihnen, dass er nicht da war. Ob er sich davongemacht hatte oder davongeschafft worden war und vor allem wie und wohin, dafür gab es auf den ersten Blick keine Indizien. Keine Notiz, kein Abschiedsbrief, keine Anzeichen von Eindringlingen.

Seine beiden Wagen hatten Seeblick. Durch das Garagenfenster war zu erkennen: Sie standen trocken da, und die Genien über dem Kühlergrill strahlten frisch poliert.

Die beiden gingen ins Haus zurück. Es musste sich irgendein Hinweis finden, was sich geändert hatte, unerwartet geändert hatte im Leben des Kandidaten. Ihn so zu bezeichnen, hätten die beiden geschmacklos gefunden; Ars M. nannte sich ihre Organisation, das verriet Anspruch, man sprach von Klienten.

Obwohl sie das ganze Haus absuchten, entdeckten sie nichts, das etwas über den Verbleib des Kandidaten verraten hätte. Blieb ihnen nun nur, eine beiden völlig unbekannte Frage zu beantworten: Sollten sie die Haustür nach ihrem Weggang verschließen? Damit versperrten sie sich selbst den Zugang für eine spätere Recherche.

Welche Personen gab es außerhalb ihres Vereins, die sein Verschwinden früher oder später feststellen mussten? Seiner Haushaltshilfe hatte er gekündigt, das war ihnen bekannt, auch, dass er keine Geschwister, keine Frau, keine Kinder hatte. Sich zu vermehren, sagte er, sei ihm immer absurd erschienen.

Sollten sie die Polizei verständigen? Sie ausgerechnet.

Es war der Beifahrer, der es schließlich bemerkte, beim dritten oder vierten Rundgang durchs Haus. Eigentlich machte dieses Haus ihre Beharrlichkeit überflüssig. Winkel und Verstecke gab es hier nicht. Selbst die Bücher, schwere Kunstbände vor allem, standen Spalier in den Regalen, nach Größe sortiert, jedes gleich weit von der Regalkante entfernt, genauso die Schallplatten. Erst bei diesem letzten Rundgang fiel dem Beifahrer im Wohnzimmer die schwarze Vinylscheibe auf dem Plattenspieler auf. Die Hülle war dahinter an die Wand gelehnt.

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