Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatte der Chefarzt, der seine Überlegenheit ausdrücken wollte, gerade den sensibelsten Bereich der Pflege angesprochen, nämlich die Intimpflege.
Bei der Intimpflege werden die Stärken der Pflege besonders deutlich. Denn es ist tatsächlich sehr wichtig für Pflegebedürftige, wie die Intimpflege durchgeführt wird. Häufig wird gerade daran eine gute Pflegekraft erkannt. Warum? Wenig berührt das Schamgefühl kranker bzw. pflegebedürftiger Menschen so stark wie die Intimpflege. Sie erfordert ein sehr ausgeprägtes Feingefühl der Pflegekraft beim Umgang mit den Pflegebedürftigen. Wer bei der Intimpflege Hilfe benötigt oder jemals benötigt hat, weiß, wovon ich spreche, wenn ich sage, dass Pflege selten mehr Vertrauen und eine größere Vertrautheit erfordert. Müller (2018) erläutert: »Kaum ein anderer Beruf arbeitet so nah am Menschen wie die professionelle Pflege.« Diese Nähe betrifft die »direkte körperliche Nähe und das Eingreifen in die Privat- und Intimsphäre« (Müller, 2018, S. 96). Das ist im wahrsten Sinne des Wortes so.
In diesem Zusammenhang erinnere ich mich an eine Situation während meiner Ausbildung, als ich einen Einsatz im Kreißsaal hatte und bei einer Hochschwangeren vor dem geplanten Kaiserschnitt, dessen Termin kurzfristig anberaumt wurde, die Körperpflege durchführen sollte. Die Frau stand vor einer Drillingsentbindung und war mutterseelenallein im Kreißsaal, da ihr Mann beruflich unterwegs war. Ich habe sie auf alle Pflegemaßnahmen immer vorbereitet, alles vorher mit ihr abgesprochen, sie um Rückmeldung gebeten, ob sie etwas in einer bestimmten Weise gehändelt haben wollte, und die Pflegemaßnahmen einschließlich der Intimpflege trotz der gebotenen Eile ruhig, mit Bedacht und Sorgfalt immer in Absprache mit ihr durchgeführt. Nebenbei habe ich mit ihr noch über die bevorstehende Sectio gesprochen, ihre offenen Fragen beantwortet und sie aufgebaut, sodass sie der OP mit einer positiven Grundstimmung entgegensah. Als wir mit der Vorbereitung fertig waren, war die Frau so dankbar und gerührt, dass sie mich unter Tränen in den höchsten Tönen gelobt hat. Dieses Erlebnis war für mich auch deswegen so besonders, weil ich anschließend der Sectio und der Geburt der Drillinge im Gyn-OP als Zuschauerin beiwohnen durfte und mein Dienst an diesem Tag damit »gekrönt« wurde. Es war wunderschön, als die kleinen Erdenbürger der Reihe nach ans Licht der Welt geholt wurden und mit zartem Piepsen ihre Ankunft bekanntgaben. Alle im Gyn-OP Anwesenden waren glücklich über das gute Gelingen der Geburt. Und die Mutter erst! Sie war gleichermaßen selig und erleichtert.
Noch Wochen und Monate nach der Geburt ihrer Drillinge, die zwar klein und zierlich, aber alle gesund waren, musste die Frau immer mal wieder mit ihnen in die Kinderklinik kommen zu Kontrolluntersuchungen. Jedes Mal, wenn sie mich sah, sprach sie mich auf unsere damalige Begegnung an und jedes Mal lobte sie mich wie am ersten Tag.
Diese Erfahrung und viele andere schöne Erlebnisse mit PatientInnen und Angehörigen, die ich während meiner Berufstätigkeit kennengelernt habe, erfüllen mich mit tiefer Zufriedenheit. Ich bin dankbar, dass ich diesen Beruf so viele Jahre ausüben konnte, und weiß, was ich in dieser Zeit geleistet habe. Genauer gesagt, ich weiß, was ich sogar trotz widrigster Umstände geleistet habe.
Darauf will ich hinaus, wenn ich sage: Pflege setzt voraus, dass die Pflegekraft sich nicht nur über die Werte im Klaren ist, die dieser Beruf beinhaltet und repräsentiert, sondern auch über die Stärken, die bei der Ausübung von Pflege gefordert werden und die sie selbst mitbringen oder sich erarbeiten muss, wenn sie diesen Beruf dauerhaft und erfolgreich ausüben und dabei selbst bei guter Gesundheit (= ganzheitlich umfassende Gesundheit als harmonische Einheit von Körper, Geist und Seele) bleiben will.
Pflege als sehr anspruchsvoller und sehr wertvoller Beruf braucht folglich Pflegekräfte mit reifer und stabiler Persönlichkeit, um sowohl den ihnen Anvertrauten als auch der Profession Pflege gerecht zu werden. Das reine Fachwissen allein ist dazu nicht ausreichend. Pflege braucht starke Persönlichkeiten. Pflege muss stark sein für die Pflegebedürftigen, für ihre Angehörigen, für die Gesellschaft insgesamt und für den Staat. Ganz unabhängig von den im Alltag sonst schon üblichen Anforderungen und schwierigen Arbeitsbedingungen führt die Coronapandemie das jetzt erst recht allen Menschen vor Augen.
2Gratifikationskrise: ein Ungleichgewicht zwischen beruflicher Verausgabung und als Gegenwert erhaltener Belohnung führt zu Stressreaktionen, die sich unterschiedlich äußern z. B. als kardiovaskuläre Krankheiten, psychiatrische Störungen, Depressionen, Alkoholabhängigkeit, muskuläre Beschwerden im Schulter-Nacken-Bereich (Ulich & Wülser, 2010).
3 Die Existenzrelevanz der Pflege
Birgit Ehrenfels
Der Begriff »systemrelevant«, wie die Politiker den Pflegeberuf seit Beginn der Coronapandemie bezeichnen, ist sehr unspezifisch. Es ist mühsam, darüber zu spekulieren, was mit dieser Bezeichnung genau gemeint ist. Für welches System ist der Pflegeberuf relevant? Für das deutsche Gesundheitssystem? Für jedes Gesellschaftssystem? »Systemrelevant« war Pflege auch zur Zeit des Dritten Reichs unter dem nationalsozialistischen Regime. Damals ist sie in ungeheuerlicher Weise instrumentalisiert worden (vgl. Steppe, 2013). Sie hat Misshandlungen und Tötungen von Millionen Menschen unterstützt. Insofern ist die Bezeichnung »systemrelevant« sogar eher zweifelhaft und muss immer hinterfragt werden.
Was auch immer mit »Systemrelevanz« gemeint ist, dieser Begriff trifft die Bedeutung der Pflege nicht annähernd. Das zumindest hat die weltweite Coronakrise ganz deutlich gemacht. Pflege arbeitet immer, unabhängig von einem politischen System, von einem Gesellschaftssystem, unabhängig von Krisen und unabhängig von Gefahren. Dabei ist Pflege ihrem Ursprung nach kein politisches Instrument. Gerade auch während der Coronapandemie ist Pflege weltweit weiterhin für Menschen tätig. Pflege arbeitet für jedes Individuum, für Pflegebedürftige jeder Nationalität, jeder Religion und jeder Herkunft. Pflege arbeitet für alle Menschen gleichermaßen, egal ob reich oder arm, jung oder alt. Diese Haltung vertritt auch der International Council of Nurses und hat sie in seinem Ethik-Kodex (ICN, 2012, S. 1) festgeschrieben. Darin wird Pflege »als Beruf mit hoher gesellschaftlicher und individueller Verantwortung« (Müller, 2018, S. 97) charakterisiert. Seine vorrangigen Aufgaben sind sowohl die Rechte und Würde der Pflegebedürftigen zu schützen als auch die Pflegehandlungen moralisch verantwortungsvoll an den gesellschaftlichen Normen und Werten auszurichten (vgl. Müller, 2018). Diese müssen deshalb ständig überprüft und reflektiert werden, um ggf. Missbrauch und Instrumentalisierung früh zu erkennen und ihnen entgegenzuwirken (Müller, 2018, S. 98). Pflege orientiert sich demnach hauptsächlich gerade nicht an den situativen Gegebenheiten, die durch irgendein System festgelegt sind, sondern vor allem am ständig existierenden Bedarf und an den immerwährenden Bedürfnissen der zu Pflegenden sowie an der moralischen Verantwortung, die mit der Ausübung der Pflege verbunden ist. Damit ist Pflege weitaus mehr als systemrelevant, sie ist nämlich existenzrelevant. Die helfende Ausübung des Pflegeberufes an sich ist existentiell (vgl. Bauch, 2005).
3.1 Die existenzerhaltende Strategie der Pflege
Die Haltung der Pflege wird in einer »existenzerhaltenden Strategie« umgesetzt, deren Aktivitäten »auf die Erhaltung der Existenz, das Wohlergehen und die Entwicklung anderer Menschen und der Umwelt abzielen« (Müller, 2018, S. 87). »Der Gedanke der Existenzerhaltung erstreckt sich dabei nicht nur auf den körperlichen Aspekt, sondern umfasst auch das seelische Wohlbefinden im Sinne der Erhaltung eines positiven Selbstbildes und des Rechts, nicht verletzt oder gedemütigt zu werden« (Friesacher, 2008, S. 288 ff.; zit. n. Müller, 2018, S. 88).
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