Der Pflegeberuf leistet für die Gesellschaft nicht nur hinsichtlich der Gesundheitsversorgung einen großen Dienst. Jährlich gibt es ca. 20 Mio. Pflegeempfänger (Bundespflegekammer, 2021), das ist etwa ein Viertel der Gesamtbevölkerung (ca. 80 Mio.). Kranke und pflegebedürftige Menschen, ob jung oder alt, erfahren durch die Pflegenden über die pflegefachliche Versorgung hinaus menschliche Zuwendung, Nähe, Unterstützung und Hilfe. Für viele Menschen ist allein die körperliche Berührung, die sie bei der Pflege spüren, sogar die einzige, die sie überhaupt erfahren. Sich um andere Menschen kümmern, andere Menschen umsorgen und pflegen, für andere Menschen Verantwortung übernehmen, anderen Menschen Unterstützung und Hilfestellung bieten, das alles sind soziale Tätigkeiten, die das Miteinander in der Gesellschaft fördern. Schon die reine Vorstellung, dass diese millionenfach erbrachten sozialen Leistungen für die Gesellschaft einmal nicht mehr zur Verfügung stehen könnten, ist beängstigend. Pflege ist also ein überaus wichtiges soziales Element innerhalb jeder Gesellschaft.
Neben allen pflegerisch erforderlichen Maßnahmen sowie diesen sozialen Tätigkeiten, die allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen, werden ferner Werte und Prinzipien innerhalb der Gesellschaft gefördert, die unser politisches und gesellschaftliches System kennzeichnen, z. B. das Gebot der Hilfeleistung, Toleranz gegenüber den Mitmenschen, das Prinzip der Gleichbehandlung, die Solidargemeinschaft, Sicherheit für die Versorgung der Bürger. In ganz besonderem Maße verkörpert Pflege das oberste Gebot unserer demokratischen Grundordnung: »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Pflege ist dadurch gleichermaßen ein wichtiges soziales wie auch ein wichtiges politisches Element für unsere demokratische Gesellschaft.
Zusammengefasst hat Pflege also nicht nur einen individuellen gesundheitlichen Nutzen für jeden einzelnen Pflegebedürftigen, sondern für unseren Staat und für unsere Gesellschaft insgesamt einen strukturellen, einen enormen volkswirtschaftlichen sowie auch einen enorm großen sozialen und politischen Nutzen. Ferner liefert der Pflegeberuf nicht nur den praktischen Nutzen durch die alltägliche Verrichtung der Pflegemaßnahmen während der Berufsausübung, durch die Mitarbeit bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme sowie durch Information und Expertise zu Gesundheitsthemen, sondern vielmehr den ideellen Nutzen durch die mit dieser Profession verbundenen ethischen Ziele und Aufgaben, die er in die Gesellschaft hineinträgt. Sodann beinhaltet das prospektive Gesundheitsstreben der professionellen Pflege die Zukunftssicherung sowohl für jedes Individuum als auch für Staat und Gesamtgesellschaft. Pflege liefert für Staat und Gesellschaft insgesamt einen immens vielfältigen Nutzen.
4.2 Pflichten von Staat und Gesellschaft gegenüber dem Pflegeberuf
Da der Nutzen der Pflege für Staat und Gesellschaft so enorm groß ist, sollte es eigentlich selbstverständlich sein, dass umgekehrt Staat und Gesellschaft sich der Profession Pflege verpflichtet fühlen und ihre tatsächlich bestehenden Pflichten gegenüber dem Pflegeberuf auch erfüllen. Das tun sie aber de facto nicht, wie nachfolgend gezeigt wird. Darüber hinaus wirkt sich diese mangelnde Pflichterfüllung sehr negativ auf die allgemeine Gesundheitsversorgung aus.
Zunächst wäre eine ordnungsgemäße Ausbildung des Pflegeberufes sicherzustellen, die die Voraussetzungen zur Erfüllung der vielfältigen Aufgaben und zum Erreichen der Berufsziele gewährleistet. Das bedeutet, dass sowohl die praktische als auch die theoretische Ausbildung die Auszubildenden möglichst optimal auf die Anforderungen der Pflegepraxis vorbereiten müssen. Das ist nicht selbstverständlich, da Auszubildende auf den Stationen, im ambulanten Pflegedienst oder in der stationären Langzeitpflege oft missbraucht werden für das Erledigen unbeliebter Tätigkeiten und für das Abdecken von Personallücken, was häufig zu Überstunden und spontanen Dienstplanänderungen führt. Im Arbeitsalltag werden auch allzu oft nicht die Inhalte vermittelt, die in der Theorie gelehrt und gelernt werden. Um diese Diskrepanz zu überbrücken, sollen Praxisanleiter eingesetzt werden. Inwiefern dadurch die ordnungsgemäße Ausbildung in der Praxis gewährleistet wird, ist mehr als fraglich, da die sonstigen Arbeitsbedingungen für die bereits examinierten oder studierten Pflegekräfte nach wie vor nicht besser werden und deshalb Zeit und Energie der bereits examinierten Pflegekräfte für die Anleitung der Auszubildenden fehlen. Die Auszubildenden in der Pflege müssten in der praktischen Ausbildung umfassend, in größtmöglicher Ruhe und mit höchstmöglichem Sachverstand angeleitet werden. Daran fehlt es in der realen Ausbildungssituation, was sowohl zu Lasten der Pflegequalität als auch zu Lasten der Arbeitsfreude geht. Der Pflegeausbildung widmet sich Kap. 5 ausgiebig (
Kap. 5).
Die Arbeitsbedingungen in der täglichen Arbeitsumgebung müssten so gestaltet werden, dass alle Pflegekräfte in allen Pflegebereichen jederzeit ihre Aufgaben auch ordnungsgemäß erfüllen können. Das beinhaltet ausreichend Zeit für die Pflegemaßnahmen, passende und ausreichende Pflegeutensilien, geeignete Pflegeumgebung (z. B. kurze Wege; möglichst geräuscharme Umgebung; keine Störungen, z. B. durch Telefonate), ausreichend und sichere Erholungspausen einschließlich freien Tagen, Urlaub usw., arbeitserleichternde Maßnahmen (z. B. ausreichend viele und funktionierende Hilfsmittel; Einsatz neuester Technik statt veralteter und defekter Geräte, auch moderne Klingelanlagen; flächendeckende Einführung der elektronischen Patientenakte, die im Ausland schon seit Jahren selbstverständlich ist).
Alle Arbeitstätigkeiten müssen entsprechend ihrer Leistung entlohnt werden. Diese Entlohnung muss zudem einheitlich geregelt sein, d. h., es darf in der Entlohnung keinen Unterschied geben weder zwischen den einzelnen Regionen, wo der Beruf ausgeübt wird, noch zwischen den unterschiedlichen Pflegebereichen (ambulant, stationär) oder den Institutionen. Pflegehandlungen in der ambulanten Pflege dürfen nicht regional oder zwischen den Krankenkassen unterschiedlich verhandelt werden. Verbrauchskosten oder Wegekosten variieren naturgemäß, aber das darf nicht an die Pflegemaßnahmen gekoppelt sein.
Die Ausbildung insgesamt, vor allem aber auch die fachspezifische oder akademische Fort- und Weiterbildung, die dann mit entsprechend weitergehenden Kompetenzen verbunden ist, muss ebenfalls adäquat finanziell anerkannt und belohnt werden. Die Entlohnung für den Pflegeberuf wird noch mal in Kap. 8 thematisiert (
Kap. 8).
Es müssen auch mehr Arbeitsplätze für akademisch weitergebildete Pflegekräfte bereitstehen. Das ist keine Frage des »Karrieresprungs«, sondern die logische Konsequenz jeder Weiterbildung. Wer viel gelernt hat, will sein Wissen und seine Kenntnisse auch anwenden und in der Berufspraxis umsetzen. Dafür müssen adäquate Möglichkeiten geschaffen werden. Diese ergeben sich vielleicht z. T. aber auch durch eine bundesweite Selbstverwaltung der Pflege, falls es dazu kommen sollte. Denn dadurch würden u. a. andere Rahmenbedingungen politisch durchgesetzt werden. Und in der Selbstverwaltung würden auch eigene Arbeitsplätze entstehen.
Alle Pflegeleistungen müssen allen Bürgern offenstehen, damit Pflege ihren Auftrag ordnungsgemäß erfüllen kann. Dafür müssen die Voraussetzungen für die pflegerische Versorgung in allen Regionen geschaffen werden. Das fängt bei der notwendigen Infrastruktur an, z. B. bei der Erreichbarkeit der Pflegebedürftigen und bei für alle zugänglichen Beratungs- und Beschaffungsmöglichkeiten, führt zur Bereitstellung der finanziellen Möglichkeiten und endet bei der ausreichenden Zahl der Pflegekräfte, die zur Verfügung stehen. Angesichts der bereits jetzt schon großen Zahl an Pflegebedürftigen, die zuhause versorgt werden, müssen dringend ambulante Pflegeunternehmen unterstützt und gefördert werden.
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