Bei den ambulanten Pflegediensten steigt ebenfalls ständig die Nachfrage nach häuslicher Versorgung von Pflegebedürftigen. In manchen Regionen kann der Bedarf an ambulanter Pflege nicht mehr zufriedenstellend gedeckt werden.
Diese Mangellagen sind für die im Pflegeberuf Tätigen äußerst unbefriedigend und bedeuten für sie einen zusätzlichen Stressfaktor, da tagtäglich eine wachsende Arbeitslast auf immer weniger Schultern verteilt wird.
Das sind inzwischen »normale« Anforderungen, die an Pflegende in ihrer täglichen Arbeit gestellt werden.
Mit der Coronapandemie sind nicht nur die Belastungen in der Pflege vielfach gestiegen, es wurde eine neue Dimension erreicht. Erstmals müssen die Pflegenden selbst ständig Nachweise über ihren eigenen Gesundheitsstatus erbringen und sich seit mittlerweile zwei Jahren ständig testen lassen. Abgesehen von wunden Nasen und Rachen vieler Pflegenden wird seit Monaten allen Pflegenden die Gefahr, in der sie sich durch die Versorgung der Kranken selbst befinden und die damit auch ihrer Familie droht, ständig vor Augen geführt. Tatsächlich wurden auch viele Pflegekräfte durch ihre Arbeit mit Corona angesteckt, wie Auswertungen der Barmer oder der Techniker Krankenkasse belegen. Viele Kranke, die notfallmäßig in ein Krankenhaus eingeliefert werden, müssen schnell versorgt werden, bevor ihr Testergebnis zur Coronainfektion vorliegt, und sie müssen auch behandelt werden, obwohl sie positiv sind. Viele Pflegekräfte haben sich dadurch in Ausübung ihrer täglichen Arbeit selbst mit Corona infiziert und viele an Corona erkrankte Pflegekräfte leiden unter den Folgen von Long-Covid oder Post-Covid. Seit nunmehr zwei Jahren besteht für die Pflegenden ebenfalls die ständige Pflicht zur Einhaltung besonderer Hygienevorschriften (spezielle Schutzkleidung, Desinfektionsmaßnahmen etc.). Pflegekräfte können die Schutzkleidung nicht einfach nach Belieben während der Arbeit ablegen, sondern müssen acht Stunden mindestens mit dichtem Mund-Nasen-Schutz, teilweise noch mehr vermummt mit Schutzkittel, Haube und Handschuhen ihren Dienst versehen. Des Weiteren müssen sich die Pflegekräfte in allen Krankenhäusern ebenso wie in Senioren- oder Pflegeheimen ständig mit einem kompletten Umorganisieren des ganzen Arbeitsbetriebes befassen: PatientInnen und BewohnerInnen testen, positiv Getestete isolieren, d. h. umquartieren in ein anderes Zimmer, Zimmer ein- und ausräumen, besondere Schutz- und Hygienematerialien bereitstellen, spezielle Schutz- und Hygienemaßnahmen vornehmen, zusätzliche Dokumentation führen, außerdem ständig Besucher kontrollieren und Besucher testen. Das sind bereits seit Monaten dauernde und irgendwann ermüdende, zusätzliche Belastungen aller Pflegenden. Dazu kommen noch die erschwerte Pflege der an Corona Erkrankten, die Sorge und oft der Kampf um das Leben der schwer Erkrankten, teilweise wegen Bettenmangels noch verbunden mit der Triagierung (= Einstufung nach Dringlichkeit bei der Behandlungsreihenfolge) oder mit der Angst vor einer möglichen Triagierung. Alle diese Umstände geben vielen Pflegenden den Rest und führen letztlich zu ihrer Überlastung.
Seit zwei Jahren werden den Pflegenden durch die Politik ständig wechselnde gesetzliche Regelungen und Anordnungen aufgebürdet, die sich regional unterscheiden, bei denen sich Bund und Länder teilweise widersprechen und bei deren Umsetzung im Arbeitsalltag sich die Pflegenden selbst überlassen bleiben. Das Pflegepersonal unterliegt als »systemrelevante« Berufsgruppe damit einer nun schon zwei Jahre dauernden extremen Fremdbestimmung.
Schon vor Corona erforderte die Bewältigung der Ansprüche und Belastungen, die auch im normalen Arbeitsalltag auf die Pflegenden einstürmen, bestimmte Voraussetzungen und Stärken von den Pflegekräften. Durch die Coronapandemie ist nicht nur die Bedeutung der Ausübung von Pflege, sondern noch vielmehr die Bedeutung der speziellen Stärken der Pflegenden enorm gewachsen. Deshalb wird nachfolgend zunächst erklärt, welche Charakteristika und besonderen Stärken mit der Profession Pflege untrennbar verbunden sind.
Im Zusammenhang mit der Ausübung professioneller Pflege wird oft von »sich dazu berufen fühlen« bzw. von »Berufung« gesprochen, was bedeutet »für diese Tätigkeit besonders geschaffen oder begnadet zu sein« (Bünting, 1996, S. 163). Worin liegt aber die besondere Befähigung zur Pflege?
In Abgrenzung zu anderen Berufen weist der Pflegeberuf einige typische Besonderheiten auf.
Verantwortungsvolle Arbeit und Sinnhaftigkeit charakterisieren zwar auch Berufe bei der Polizei, Feuerwehr oder Sozialarbeit, aber die Pflege verkörpert eine enorme Vielfalt an Werten, die bei anderen Berufen nicht in dieser Konstellation zu finden ist.
Krankenpflege wird seit jeher durch die Werte Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft gegenüber Kranken und Schwachen charakterisiert in Anlehnung an den christlich-humanitären Begriff der Barmherzigkeit (vgl. Lademann, 2018; Cassier-Woidasky, 2007; Baumhauer et al., 1983). Abgesehen von Freundlichkeit, taktvoller Distanz und Einfühlungsvermögen gegenüber Pflegebedürftigen wird dem Pflegepersonal ein »harmonisches Miteinanderwirken von Gefühl und Verstand, von menschlicher Zuwendung und der Anwendung medizinischen Wissens« (Baumhauer et al., 1983, S. 4) zugeschrieben. Krankenpflege wird dargestellt als »Dienst am Kranken« (Baumhauer et al., 1983, S. V) individuell, darüber hinaus aber auch als Dienst an der Gesellschaft allgemein, womit eine Gemeinwohlorientierung betont wird (vgl. Cassier-Woidasky, 2007).
Diese Werte und Eigenschaften gelten nach wie vor bei der Pflege. Nach wie vor sind alte, kranke, behinderte, arme und sozial schlechter gestellte Menschen auf Pflege angewiesen. Heutzutage wird von »personenbezogener Dienstleistung« gesprochen, also von einer auf den Menschen ausgerichteten Arbeit (Müller, 2018, S. 82). Auch die »menschenfreundliche« und »zugewandte Grundhaltung« (Müller, 2018, S. 83) der Pflegenden wird immer wieder betont.
Doch die Werte und Eigenschaften, die Pflege ausmachen, entsprechen nicht dem Zeitgeist des 21. Jh. und stehen ganz gewiss nicht im gesellschaftlichen Fokus. Wer denkt heutzutage über taktvolle Distanz und Einfühlungsvermögen nach? Außerdem haben die pflegetypischen Werte leider oft zu missverständlichen Interpretationen des Pflegeberufs geführt. Insbesondere der Aspekt des »Dienens« oder »Diensttuns« hat der Pflege oft eine unterwürfige Haltung gegenüber der Ärzteschaft und gegenüber einer bewusst künstlich geschaffenen Hierarchie nahegelegt, obwohl dazu überhaupt keine Veranlassung besteht und auch niemals bestanden hat. »Dienen« bedeutet in der deutschen Sprache »eine Aufgabe erfüllen«, »nützlich sein« (Bünting, 1996, S. 248). Darin liegt überhaupt nichts Unterwürfiges, ganz im Gegenteil. Welch wichtige Aufgaben die Pflege erfüllt und in welch außerordentlich hohem Maße sie nützlich ist, zeigt die aktuelle Coronapandemie. (Der vielfältige Nutzen der Pflege für Staat und Gesellschaft wird ausführlich erörtert in
Kap. 3.)
Gleichzeitig kämpfen Pflegekräfte als Menschen, die ihrer Gesinnung nach eher freundlich zugewandt, taktvoll distanziert und einfühlsam sind, weniger für ihre eigenen Rechte, sondern setzen sich mehr für die Rechte derer ein, die nicht selbst für sich kämpfen können, also wiederum für die Alten, Kranken, Schwachen. Dieser Umstand, dass sich die Pflege in Deutschland sehr lange weitgehend zurückgehalten hat mit der Durchsetzung ihrer eigenen Wünsche und Interessen, hat ihre Unterentwicklung in unserem Land stark begünstigt.
Neben dem sichtbaren physischen Erfolg von Pflegemaßnahmen, der sich allerdings leider nicht bei allen Pflegebedürftigen einstellen kann, ist einer der schönsten Momente, wenn durch die Pflegemaßnahmen zwischen Pflegebedürftigen und Pflegekräften Vertrauen und Vertrautheit zustande kommen. Dieser Moment wird ausgedehnt zu einem bleibenden Vertrauensverhältnis, wenn bei länger andauernder oder sogar permanent dauerhafter Pflege Vertrauen und Vertrautheit wachsen und nicht missbraucht werden. Nicht selten entwickelt sich durch die Pflege eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Pflegekräften und Pflegebedürftigen, wenn die Pflegemaßnahmen zur Zufriedenheit aller Beteiligten ausgeübt werden. Die Beziehung wird oft gefördert durch die emotionale und mentale Unterstützung der Pflegekräfte, die sie den Pflegebedürftigen bieten. Das geht weit über die reine Durchführung von Pflegemaßnahmen hinaus. »Vielmehr wird Pflege mit einer zwischenmenschlichen Dimension, mit Beziehung und Interaktion verknüpft, in der beide Seiten, zu pflegender Mensch und Pflegeperson, in besonderer Weise miteinander verbunden sind« (Müller, 2018, S. 86). Diese besondere Verbundenheit entsteht i. d. R. bei der Pflege chronisch kranker, schwerbehinderter oder auch sterbender Menschen, oft in enger Beziehung nicht nur zu den Pflegebedürftigen, sondern auch zu deren Angehörigen.
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