Meistens wird zunächst durch eine wertschätzende Grundhaltung und durch Empathie, darüber hinaus aber auch durch das eigene Selbstvertrauen, durch das eigene Selbstbewusstsein und durch die eigene Charakterstärke den Pflegebedürftigen Halt und Zuversicht vermittelt. Wenn sich eine charakterstarke Pflegekraft mit ihrer eigenen Persönlichkeit auseinandersetzt und sich ihrer eigenen Schwächen und Fehler bewusst ist, kann sie sich besser in die Pflegebedürftigen hineinversetzen und besser mit den Schwächen, Fehlern und Krisen der Pflegebedürftigen umgehen. Das ist besonders wichtig bei lang dauernden Pflegebeziehungen und bei der Pflege schwerkranker Pflegebedürftiger. Die Beziehung zwischen Pflegekraft und Pflegebedürftigen hängt dann sehr vom Selbst-Bewusstsein der Pflegekraft ab.
Von den Pflegenden erfordert Pflege ständig Selbstreflexion, Selbstkritik und den Mut zu dieser Auseinandersetzung mit sich selbst. Damit hängt auch zusammen, die eigenen Grenzen zu hinterfragen und sich selbst zu schützen vor Überanstrengung und Überforderung. Diese permanente Selbst-Prüfung macht den Pflegeberuf abgesehen von den äußeren Gegebenheiten sehr anstrengend. Mit jeder/jedem Pflegebedürftigen findet im Grunde automatisch dieser Prozess der Selbst-Prüfung statt, da die Pflegekraft durch die Pflege einen Spiegel ihrer eigenen Persönlichkeit vor sich hat.
Deshalb vertrete ich eine andere Position zu der Ansicht, dass Pflegende die eigenen Bedürfnisse »als nachrangig behandeln« und »zurückstellen« sollen (Müller, 2018, S. 81; Friesacher, 2008, S. 298; zit. n. Müller, 2018, S. 88). Ein Zurückstellen der eigenen Person und Bedürfnisse kann nur bedingt zeitweise, z. B. bei einem Notfall, angebracht sein. Wenn Pflegende während der Durchführung der Pflegemaßnahmen durch Selbstreflexion erkennen, dass sie aus irgendeinem Grund die Pflege nicht voll konzentriert und/oder nicht vollumfänglich so gut ausführen können, wie es erforderlich wäre, müssen sie umgehend Abhilfe schaffen und sich notfalls ablösen lassen. Sonst gehen sie einerseits das Risiko ein, Fehler zu verursachen und schlimmstenfalls den ihnen Anvertrauten Schaden zuzufügen, andererseits besteht die Gefahr, dass ein falsches Verständnis von Pflege als »dienendem« Beruf und die damit verbundene Aufforderung zur ständigen Selbstaufopferung die Pflegenden selbst auf Dauer krankmachen. Es können z. B. Burnout oder Gratifikationskrisen 2 entstehen (vgl. Ulich & Wülser, 2010) und die Pflegekräfte können körperlich und seelisch erkranken.
Wenn aus irgendwelchen Gründen zwischen einer Pflegekraft und einer/-m Pflegebedürftigen die Beziehung nicht stimmt und keine gute Pflege möglich ist, so ist das keine Schande und keine Katastrophe. Dann muss sich die Pflegekraft entweder um eine Änderung der Beziehung bemühen oder sich ganz zurückziehen und durch eine andere Pflegekraft austauschen lassen. Entscheidend ist die Reflexion über die Situation und die rechtzeitige Änderung der Situation.
Pflegekräfte benötigen dazu viel Mut, Selbstvertrauen und Selbstbewusstsein. Vor allem auch in ihrem eigenen Interesse, um ihre eigene Situation richtig einzuschätzen, um gute Entwicklungen genauso zu erkennen wie schlechte und um Änderungen vorzunehmen, falls notwendig. Also wird eine qualitativ gute Pflege erst durch persönliche Reife möglich. Diese Reife fördert die Authentizität der Pflegekräfte und unterstützt den respektvollen, aufrichtigen, fairen und vertrauensvollen Umgang mit den Pflegebedürftigen. Der Dreh- und Angelpunkt der Pflege ist folglich die Persönlichkeit der Pflegekräfte. Diese bestimmt die Pflege: ist die Pflegekraft mit sich im Reinen, dann funktioniert ihre Pflege und ihre Beziehung zu den Pflegebedürftigen ist entsprechend gut. Ist die Pflegekraft inkongruent und nicht authentisch, wirkt sich das auf die Pflege und auf die Beziehung zu den Pflegebedürftigen negativ aus. Pflegekräfte müssen dazu dauerhaft die eigene Persönlichkeit möglichst im Gleichgewicht halten, d. h. die eigene Einheit aus Körper, Geist und Seele immer wieder ausbalancieren. Wem das gelingt, der kann Pflegebedürftigen mittels seiner eigenen Stabilität eine gute Stütze sein.
Bei keinem anderen Beruf muss zeitgleich während der praktischen Berufsausübung, die allein schon ein hohes Maß an Fachwissen, Können und Konzentration erfordert, dazu noch intrapersonal mit der eigenen Persönlichkeit so viel Bewältigungsarbeit und interpersonal auf zwischenmenschlicher Ebene so viel Beziehungsarbeit geleistet werden. Bauch (2005) spricht von »Gefühlsarbeit« oder »sentimental work«, die sogar beim Unterdrücken von Gefühlen geleistet werden müsse. Die Aufmerksamkeit der Pflegekraft wird während der Pflege nicht nur nach außen auf die Pflegebedürftigen, auf Angehörige und auf das Pflegeumfeld gerichtet, sondern während der Steuerung der Pflegehandlungen gleichzeitig nach innen auf ihre eigene Persönlichkeit, auf ihr eigenes Befinden, ihre eigenen Bedürfnisse und ihre eigenen Grenzen. Denn während der Pflege werden Pflegekräfte oft an ihre eigenen Grenzen gebracht. Deshalb müssen sie unbedingt fähig sein, diese auch zu erkennen.
Die einerseits sehr komplexen intrapersonalen und andererseits sehr komplexen interpersonalen Vorgänge, deren mentale und emotionale Bewältigung während der Pflegetätigkeit viel Energie erfordern, laufen also bei gleichzeitiger Verrichtung der einzelnen Pflegemaßnahmen ab. Das macht diesen Beruf außergewöhnlich und überaus anspruchsvoll.
Pflege ist also ein enorm wert-voller Beruf. Zur Erfüllung dieser Werte kommen in der Berufsausübung bei den Pflegekräften zahlreiche Eigenschaften zum Tragen wie Freundlichkeit, Verantwortungsbewusstsein, Vertrauenswürdigkeit, Geduld, Toleranz, Zugewandtheit, Einfühlungsvermögen, Scham- und Taktgefühl, Flexibilität, Sorgfalt, Vielseitigkeit, Konzentrationsfähigkeit, Ausdauer, Improvisationsfähigkeit, um nur einige zu nennen. Aber der ursprünglichen Aufgabe nach zeichnet sich Pflege vor allem aus durch Menschenliebe und Hilfsbereitschaft im Sinne von Fürsorglichkeit. Dies stellt eine persönliche Haltung gegenüber allen Menschen dar. Um in der Pflege gut und erfolgreich arbeiten und dabei der Menschenliebe und Fürsorglichkeit nachkommen zu können, ist aber die Bereitschaft zur Selbstreflexion und Selbstkritik unbedingt notwendig, weil die Pflegeperson in ihrer Fürsorglichkeit immer an die eigenen Grenzen stößt. Nur dadurch ist sie letztlich auch fähig zu Korrekturen ihrer Pflege oder Pflegebeziehung. Das macht Pflegende stark.
2.2 Erfahrungsberichte zu den Werten des Pflegeberufes
Während ich über diese Zusammenhänge nachdenke, erinnere ich mich an eine Situation, die ich mit einem Chefarzt einer Kinderklinik erlebt habe:
Mitte der 1990er Jahre, war die Mitaufnahme von Eltern bei ihren Kindern noch nicht selbstverständlich. Die Mitaufnahme von sozial schlecht gestellten Eltern wurde gern abgelehnt. Oft wurde Platzmangel als Grund angegeben, um sie nicht aufnehmen zu müssen. Trotzdem war auch bei starker Belegung immer noch irgendwie Platz für privatversicherte Eltern, selbst wenn sie in einem Zimmer in einem anderen Gebäudeteil der Kinderklinik untergebracht wurden. Diese Ungleichbehandlung hat mich sehr gestört, weil alle Kinder gleichermaßen ihre Eltern gerade im Krankenhaus besonders brauchen, unabhängig vom sozialen Stand. Darüber geriet ich einmal in eine Diskussion mit dem damaligen Chefarzt der Kinderklinik. Als er mit seinen Argumenten am Ende war, schrie er mich an: »Halten Sie sich da raus! Ihre Aufgabe ist, anderen Leuten den Arsch abzuwischen! Befassen Sie sich nicht mit Themen, die Ihren Horizont übersteigen!« Dazu sagte ich damals: »Wenn Sie jemals in eine Situation kommen, wo Sie sich nicht selbst den Arsch abwischen können, werden Sie feststellen, wie wichtig das ist, und es wird Ihnen nicht gleichgültig sein, wer das macht und wie es gemacht wird.« Damit war das »Gespräch« für mich beendet und ich drehte mich um und ließ ihn stehen.
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