1 ...6 7 8 10 11 12 ...23 „Tja, und als mein lieber Henry das Zeitliche gesegnet hatte, beschloss ich, meinen Zeitungsverlag zu verkaufen und nach Deutschland zurückzukehren“, schloss sie ihre Geschichte. „Ich bin also frei und kann tun und lassen was ich möchte.“
Kapitel 5: Dem Tod entronnen
Meine unkonventionelle Tante war zwar in einem Sportwagen mit nur einer kleinen Reisetasche bei mir vorgefahren, am nächsten Morgen stellte sich allerdings heraus, dass dies nur die Spitze des Eisbergs war.
In aller Herrgottsfrühe, noch bevor mein Wecker klingelte, wurde ich von lautem Motorenlärm geweckt. Ein LKW mit einem Überseecontainer hielt vor unserem Garten und zwei Männer sprangen aus der Fahrerkabine. Ich sah durch mein Fenster, wie Tante Rosie den beiden die Gartenpforte öffnete und ihnen unter lautem Gestikulieren den Weg ins Haus wies. Wotan, der die Nacht in meinem Zimmer verbracht hatte, stellte sich neben mich, sah aus dem Fenster und stimmte ein kurzes Knurren an.
„Pscht“, wies ich ihn zurecht und er verstummte sofort. Verwundert sah ich ihn an – so viel Gehorsam hatte ich nicht erwartet. Allerdings hatte er mich bereits am Tag zuvor überrascht, als er – völlig unerwartet – Tante Rosie unbehelligt ließ, obwohl sie in unserer Küche saß.
Wir hatten ihn, nachdem Tante Rosies Lebensgeschichte beendet war, aus seiner Einzelhaft befreit. Mit Leine und Maulkorb hatte ich ihn mit klopfendem Herzen in die Küche geführt, wo Tante Rosie reglos und mit einem großen Stück Wurst bewaffnet am Küchentisch saß. Zu unserer Verblüffung machte er keinerlei Anstalten, sie in Stücke zu zerreißen, sondern setzte sich vor sie, legte eine seiner großen Vorderpfoten auf ihr Knie und sah unverwandt das Stück Wurst an, das sie in der Hand hielt. Vorsichtig, ganz vorsichtig, brach Tante Rosie ein Stück ab und schob es ihm durch die Gitter seines Maulkorbs hindurch in die Schnauze. Und ebenso vorsichtig nahm Wotan das Wurststückchen und kaute lange und genussvoll darauf herum.
„Ich glaube, wir können ihm den Maulkorb abnehmen“, meinte Tante Rosie, nachdem Wotan auf diese Art und Weise eine ganze Fleischwurst verzehrt hatte. Mit zitternden Fingern löste ich die Riemen von seinem Kopf, die Leine fest in meiner Hand. Wotan sah mich kurz an, dann drehte er sich um, stellte sich vor Tante Rosie und leckte ihr mit seiner riesigen Zunge einmal quer durch das Gesicht. Tante Rosie quiekte angewidert, fing dann doch an zu lachen und tätschelte ihm schließlich etwas zögernd den Kopf.
„Ich glaube“, sagte sie, „dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Und nun stand ich mit Wotan am Fenster und wir sahen zu, wie aus dem Container Kisten, Koffer, ein Fernseher, eine Stereoanlage, ein Computer, eine Stehlampe in futuristischem Design, ein Lesesessel und zum guten Schluss noch ein riesiger Spiegel ins Haus getragen wurden. Meine Tante sprang zwischen den Männern umher und es erschien mir wie ein Wunder, dass sie keinen von ihnen zu Fall brachte. Nach etwa einer halben Stunde war der Container leer und das Schauspiel beendet. Gemeinsam mit Wotan ging ich die Treppe herab, neugierig ob im Untergeschoss noch Platz zum Atmen übrig geblieben war. Kisten stapelten sich im Flur und ließen nur noch einen schmalen Pfad frei, dem ich in die Küche folgte. Hier saß meine Tante am Tisch, auf dem sich die Stereoanlage zusammen mit dem Computer drängte. Überragt wurde das Bild von der imposanten Stehlampe, die ihren riesigen grünen Schirm über Tante Rosies Kopf streckte.
„Guten Morgen“, sagte ich über den voll gepackten Küchentisch hinweg.
„Hallo Mia, ich glaube, heute wird es etwas schwierig mit dem Frühstück!“
Damit konnte sie Recht haben, jedenfalls war der Weg zum Kühlschrank weitgehend durch den monumentalen Spiegel versperrt.
„Am besten, du ziehst dich schnell an, dann fahren wir zusammen in die Stadt und gehen noch irgendwo frühstücken, bevor deine Schule anfängt.“
Dies war eine gute Alternative zu dem momentan herrschenden Chaos, auch wenn mir bei dem Gedanken, in Tante Rosies rotem Sportflitzer vor der Schule vorzufahren, nicht wirklich wohl war.
Wir hatten nur noch ungefähr eine Stunde Zeit, bis der Unterricht anfing, so dass ich mich in Windeseile in meine Klamotten schmiss, Wotan in den Garten schickte und meine Schulsachen zusammenpackte. In weniger als einer Viertelstunde saßen wir nebeneinander in Tante Rosies Cabrio.
In unserem winzigen Städtchen war die Auswahl der Frühstücksmöglichkeiten ziemlich beschränkt. Tante Rosie sah mich an.
„Wo soll es hingehen?”, fragte sie und steckte den Zündschlüssel ins Schloss.
„Ich weiß nicht recht. Viel Auswahl haben wir nicht und, um ehrlich zu sein, ich war hier noch nie auswärts frühstücken.“
Wenn ich es recht bedachte, war ich eigentlich noch nie auswärts frühstücken gewesen, aber ich beschloss, dass ich das Tante Rosie ja nicht unbedingt auf die Nase binden musste.
„Gestern auf der Herfahrt, bin ich an einer Bäckerei vorbeigekommen, die eigentlich ganz ordentlich aussah. Da fahren wir jetzt mal hin.“
Energisch setzte Tante Rosie den Wagen in Bewegung und bog auf die Landstraße ab. Ich überlegte kurz. Wenn es das war, was sie meinte, war die Bezeichnung Bäckerei etwas untertrieben. Das Café Koch war das erste Haus am Platz, wenn man in einem so kleinen Ort überhaupt davon sprechen konnte.
„Dort kauft der Oberbürgermeister seine Brötchen“, hatte mein Vater diese Bäckerei einmal ironisch charakterisiert. Nun ja, Tante Rosie war aus New York vermutlich Besseres gewohnt, so dass sie sicher nichts Besonderes daran fand.
Binnen fünf Minuten hatten wir unser Ziel erreicht. Meine Tante parkte schwungvoll ein und ergriff ihre Handtasche, die auf der kleinen Rückbank lag. Neben diesem Kunstwerk aus Leder wirkte meine Schultasche, die ich schon seit mehreren Jahren benutzte, wie ein alter Sack. Ich beschloss, sie ebenso würdevoll zu schultern, wie es Tante Rosie tat.
Wir betraten das Café und ließen uns an einem Tisch nieder. Tante Rosie studierte kurz die Karte und ließ dann ihren Blick suchend umherschweifen.
„Bist du auch so hungrig wie ich?”, fragte sie mich und versuchte dann offenbar, mit der Bedienung, die am Nebentisch beschäftigt war, auf telepathischem Wege, durch unverwandtes Anstarren, Kontakt aufzunehmen.
Offensichtlich war sie erfolgreich damit, denn diese drehte sich mit den Worten: „Ich bin gleich bei Ihnen“, zu uns um und Tante Rosie sah mich an.
„Ich sag dir eins Mia, Menschen spüren es, wenn man sie anstarrt. Ich weiß nicht warum, aber es wirkt immer.“
Ich sah sie zweifelnd an. Allerdings kam ich nicht mehr dazu, ihr meine Meinung zu dieser Theorie zu erläutern, denn die Bedienung machte ihr Versprechen wahr und stand mit gezücktem Notizblock vor uns.
„Wir nehmen zweimal das Schlemmerfrühstück. Für mich bitte Kaffee.“ Tante Rosie sah mich fragend an: „Trinkst du auch Kaffee zum Frühstück.“
„Ja, bitte“, brachte ich hervor. Schlemmerfrühstück? Eine Schale Corn Flakes mit Milch war für gewöhnlich alles, was ich morgens hinunter bekam.
„Eigentlich esse ich morgens nicht so besonders viel“, wandte ich ein.
„Ach, Kindchen, einmal ist keinmal. Wir lassen es uns jetzt mal gut gehen.“
Tante Rosie schien bester Laune zu sein. Das Café Koch wurde seinem Ruf gerecht und die Bedienung ließ uns nicht lange auf unser Frühstück warten. Rasch kehrte sie mit zwei Kännchen Kaffee zurück und begann dann, unser opulentes Mahl aufzutischen. Eine große Käseplatte und eine überdimensionale Aufschnittplatte wurden von zwei gekochten Eiern, einer Auswahl Marmeladen, einer großen Schale Müsli, Quark und Joghurt begleitet. Ein riesiger Brotkorb, der neben Croissants und Brötchen auch noch Knäckebrot und Vollkornbrot enthielt, war die Krönung des ganzen. Der Begriff Schlemmerfrühstück war offenbar ernst gemeint.
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