Sie blickte mich an.
„Mensch, Mia, du hast ja bloß einen Schlafanzug an!“ Ich sah sie einigermaßen überrascht an und fragte mich, ob ihr das bisher wirklich noch nicht aufgefallen war. Hatte sie gedacht, mein Aufzug wäre die traditionelle Sonntagskleidung dieser Region?
„Äh, ja“, antwortete ich. „Wotan hat mich geweckt, als er dich verbellt hat und dann bin ich gleich raus gerannt, um zu verhindern, dass du ihm zum Opfer fällst.“
„Na, dann wird es aber Zeit, dass wir ins Haus kommen. Gibt es hier irgendwo Werkzeug?“ Ich schüttelte den Kopf. Einen Geräteschuppen oder ähnliches gab es bei uns nicht, die Garage war verschlossen und wenn sich überhaupt ein Hammer oder dergleichen in unserem Hausstand befunden hätte, dann ganz bestimmt irgendwo im Keller unter dem Haus.
Tante Rosie ließ mich vor der Haustür stehen und ging zurück zu ihrem schnittigen Sportwagen. Sie öffnete den Kofferraum und begann darin zu kramen. Nach wenigen Augenblicken tauchte sie mit einem Wagenheber in der Hand wieder auf. Triumphierend schwang sie ihn über ihrem Kopf.
„Damit werden wir jetzt ein Fenster einschlagen und im Nu bist du wieder gesellschaftsfähig.“
Mit gemischten Gefühlen sah ich zu, wie sie die Kofferraumklappe wieder zuschlug und sich aufrichtete.
Mit einem Mal starrte sie angestrengt in die Ferne. „Schau mal, da hinten auf dem Bauernhof sind ein paar Leute. Sieht so aus, als ob da ein Möbelwagen vorfährt.“
„Das kann nicht sein, der Hof ist schon lange verlassen und total runtergekommen.“
„Doch, ich bin mir sicher, da steht ein Möbelwagen.“
Neugierig ging ich barfuß durch den Garten und trat neben sie auf die Straße. Tatsächlich, sie hatte Recht. Ich konnte sogar zwei LKWs erkennen, die vor dem Brunnen im Innenhof standen und mehrere Männer hatten sich im Hof verteilt.
„Los, komm, die haben bestimmt Werkzeug dabei. Wir fahren da mal schnell rüber.“
„Äh, nein, ich warte hier lieber auf dich. Ich glaube, ich bin nicht richtig angezogen“, antwortete ich mit einem Blick auf meine nackten Füße.
„Du hast Recht“, rief sie mir zu, während sie sich in ihr Auto schwang. „Ich bin gleich wieder da“, konnte ich noch durch den aufbrausenden Motorenlärm hören und dann blieb ich auch schon, in eine Staubwolke gehüllt, zurück.
Gespannt und mit tränenden Augen blickte ich dem Wagen hinterher und sah, wie Tante Rosie mit maximaler Geschwindigkeit den schmalen Schotterweg zum Eulenhof entlang brauste. Mit einer schwungvollen Kurve umrundete sie den alten Brunnen und kam mit quietschenden Reifen vor einer Gruppe von drei Männern zum Stehen. Tante Rosie redete mit wilden Gesten energisch auf sie ein und ich war eigentlich nicht verwundert, als ein älterer Herr sich aus der Gruppe löste und mit schnellen Schritten im Haus verschwand, um im nächsten Augenblick mit einer Werkzeugkiste wieder zu erscheinen. Ohne lange zu zögern stellte er die Kiste auf den Rücksitz des Wagens und nahm selber auf dem Beifahrersitz Platz. Tante Rosie trat wieder aufs Gas und wenige Augenblicke später war ich eine neue Staubwolke gehüllt.
„Hilfe naht“, rief sie mir entgegen. Ihr Begleiter stieg für sein Alter sehr behände aus dem Wagen, eilte auf die Fahrerseite und öffnete Tante Rosie galant die Wagentür. „Vielen Dank, mein Lieber. Darf ich sie kurz mit meiner Nichte Mia bekannt machen?“ Er lächelte mich an und streckte mir seine Hand entgegen.
„Sehr erfreut, Sie kennen zu lernen. Mein Name ist Dr. Malinkow und ich glaube, wir sollten mal schauen, dass sie ihren Schlafanzug loswerden. Es ist ja schon fast Nachmittag.“
Noch bevor ich antworten konnte, beugte er sich über den Rücksitz und entnahm dem Werkzeugkasten einen kleinen Haken, mit dem er zielstrebig auf die Haustür zuging. Während Tante Rosie und ich noch zögerten, ob wir ihm folgen sollten, hatte er sich schon zum Türschloss herabgebeugt, den Haken ins Schloss gesteckt und ein paar Mal hin und her bewegt. Dabei bewegte er die Lippen, als ob er leise vor sich hin fluchen würde. Wir hörten ein kurzes „Schnapp“ und die Tür war offen.
„Seien Sie vorsichtig, da drin ist der Hund“, rief ich erschrocken und setzte zu einem Spurt Richtung Haustür an. „Gehen Sie nicht ins Haus. Wotan ist unberechenbar.“
Eigentlich war Wotan sogar sehr berechenbar. Ich konnte mir gut ausmalen, was geschehen würde, wenn dieser nette ältere Herr auch nur einen Schritt über unsere Schwelle setzen würde. Atemlos erreichte ich die Haustür und griff nach dem Türknauf. Dr. Malinkow richtete sich auf. „So, bitte schön. Der Weg ist frei.“ Er sah mich aus freundlichen Augen an.
„Wie haben Sie das so schnell hinbekommen?”, fragte ich erstaunt. „Da kann ja kein Einbrecher mithalten!“
Er zog eine Augenbraue hoch.
„Oh, ich wollte Sie nicht beleidigen“, stammelte ich und schämte mich für meine vorlaute Bemerkung. Statt dankbar zu sein, brachte ich meinen Retter in Verlegenheit.
„Vielen Dank, mein Lieber, Sie sind die Rettung in der Not“, ertönte Tante Rosies Stimme hinter uns und befreite mich aus dieser peinlichen Situation. „Hoffentlich können wir uns bei Ihnen bei passender Gelegenheit revanchieren.“
„Sie können sich bereits jetzt revanchieren, indem Sie mich wieder zu meinen Leuten zurück fahren. Wir haben heute noch viel zu erledigen.“
„Natürlich, natürlich, kommen Sie.“ Tante Rosie winkte einladend und Dr. Malinkow nahm wieder auf dem Beifahrersitz Platz. „Mach’s gut Mia. Bis zum nächsten Mal“, rief er mir noch zu, bevor er wieder in einer Staubwolke verschwand.
Erleichtert öffnete ich die Haustür und sah mich zuerst nach Wotan um. Ich musste die Bestie irgendwie bändigen, bevor Tante Rosie zurück war. Zu meiner Überraschung lag er friedlich auf seiner Decke neben der Tür und schaute Schwanz wedelnd zu mir hoch.
„Da bist du ja, du Monster. Ich muss dich jetzt erstmal entschärfen“, sagte ich zu ihm, während ich nach dem Maulkorb griff, der neben der Tür hing. Widerstandslos ließ er ihn sich umbinden. Schließlich legte ich ihm noch Leine und Halsband an und führte ihn dann in das Arbeitszimmer meiner Mutter, schloss die Tür und drehte den Schlüssel um, der von außen im Schloss steckte.
„Kindchen!”, hörte ich auch schon ein Rufen auf dem Gartenweg.
„Ich bin im Haus, du kannst reinkommen“, antwortete ich, während ich beobachtete, wie Tante Rosie die Tür einen Spalt weit öffnete und vorsichtig hindurch lugte.
„Wotan ist eingesperrt. Die Gefahr ist gebannt“, rief ich ihr zu.
Tante Rosie setzte zögernd einen Fuß über die Schwelle.
„Weißt du was?", sagte sie zu mir, als sie schließlich im Hausflur stand.
„Jetzt hätte ich gerne eine starke Tasse Kaffee und ein kleines Gläschen Cognac.“
So begann mein neues Leben mit Tante Rosie.
„Also“, sagte sie, als wir zusammen am Küchentisch saßen. „Deine verrückten Eltern haben dich alleine gelassen, und sind an den Nordpol gezogen.“
„Südpol“, korrigierte ich sie. „Na, dann eben Südpol, das Ergebnis ist das selbe“, brummte sie und nippte an ihrem Kaffee. „Deine Mutter hat als Kind schon nichts als Flausen im Kopf gehabt, das scheint bei uns irgendwie in der Familie zu liegen.“
Sie sah mich prüfend an. „Was ist mit dir?“
Ich selber fühlte mich eigentlich sehr normal – vielleicht war ich etwas aus der Art geschlagen.
„Was ist mit dir?”, gab ich die Frage zurück. Sie sah mich fragend an.
„Wie kommt es, dass du alle Zelte abbrichst und für ein Jahr mein Kindermädchen spielen kannst?“
Und so kam es, dass wir den restlichen Nachmittag mit Tante Rosies Lebensgeschichte verbrachten. Ein aufregendes Leben, das mit ihrer Kindheit in einem kleinen norddeutschen Dorf begann, ihre Zeit im Internat, dann an der Uni, ihre Zeit als Journalistin, ihre drei Ehemänner und ihr eigener Zeitungsverlag in den USA zogen in bunten Bildern an mir vorbei.
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