Schlagartig verstummte die Musik, und es war stockdunkel im Mister X. Spitze Schreie ertönten und die Menschen erstarrten für einen kurzen Augenblick. Reflexartig griff ich nach Martins Hand, und zog ihn mit mir von der Tanzfläche. Ich hörte, wie Bewegung in die dunkle Menschenmasse kam und versuchte, mich zu erinnern, in welcher Richtung der Ausgang lag. Doch ich hatte die Orientierung verloren.
„Wo geht es raus?”, fragte ich Martin. „Hier entlang“, antwortete er und begann, uns durchs Dunkle zwischen den anderen Körpern hindurch zu manövrieren. Ich folgte ihm im wahrsten Sinne des Wortes blind und wir tasteten uns langsam an Tischen und Theken vorbei zur Tür. Inzwischen hatte sich eine Art Menschenströmung gebildet, die dieselbe Richtung einschlug, so dass wir nach einer Ewigkeit, die wahrscheinlich nur einige Minuten dauerte, einen frischen Windhauch aus der geöffneten Tür spürten, der uns schließlich ins Freie geleitete.
Martin ließ meine Hand los und wir atmeten erleichtert auf. Doch irgendetwas war immer noch nicht richtig. Ich blickte mich irritiert um und versuchte herauszufinden, war es war. Ich schaute rüber auf die gegenüberliegende Straßenseite und sah – nichts! Das war es! Das Licht war nicht nur im Mister X ausgefallen, auch draußen war es stockdunkel. Die Straßenbeleuchtung war aus, die umliegenden Häuser lagen im Dunkeln und selbst die Ampeln zeigten kein Signal mehr. Nur der Vollmond beleuchtete die Szene und setzte uns alle in ein fahles, weißes Licht.
Ich versuchte angestrengt, Kathi und Frank irgendwo zu entdecken. Plötzlich hörte ich eine Stimme, die meinen Namen rief. Es war Kathi.
„Hey Kathi, wir sind hier!”, antwortete ich und zog Martin in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war.
„Wenn ich schon mal einen Fuß auf die Tanzfläche setze, geht gleich das Licht aus“, versuchte ich einen Scherz, als wir endlich neben Kathi und Frank standen.
„Aber warum geht das Licht in der ganzen Stadt aus, so schlecht tanzt du nun auch wieder nicht“, grinste Frank mich an.
„Was nun?”, fragte Kathi.
Ich fühlte mich mit einem Mal schrecklich müde. „Ich mache mich auf den Heimweg“, erklärte ich. Die drei sahen mich an.
„Im Dunkeln?”, fragten sie mich wie aus einem Munde. „Es war ja auch dunkel, als ich hergekommen bin.“ Ich schaltete die Taschenlampe meines Smartphones an und suchte in ihrem Lichtkegel nach meinem Fahrrad. Im trüben Licht entdeckte ich es dort, wo ich es abgestellt hatte.
„Wollt ihr etwa hier warten, bis das Licht wieder angeht? Wer weiß, wie lange das dauert.“ Ich wandte mich meinem Fahrrad zu und holte es aus dem Ständer. Schiebend näherte ich mich wieder den dreien. „Dein Licht brennt nicht“, bemerkte Kathi. Stimmt, daran hatte ich nicht mehr gedacht. Das Mondlicht war zwar ungewöhnlich hell an diesem Abend, aber ich war mir nicht sicher, ob es ausreichen würde, um den Weg nach Hause zu finden.
„Ohne Licht kannst du nicht alleine fahren. Ich begleite dich“, schlug Martin zu meiner Überraschung vor. So ritterlich hatte ich ihn nicht eingeschätzt. Aber unter diesen Umständen nahm ich sein Angebot, mit seinem gut beleuchteten Rad vor mir her zu fahren, gerne an.
Gemeinsam machten wir uns auf den Weg und hatten schon bald die Ortschaft hinter uns gelassen. Ich heftete mich an Martins Rücklicht und war froh, einen leuchtenden Fixpunkt vor mir zu haben. Zwar war Martin noch nie bei uns zu Hause gewesen, aber ich war nicht überrascht, zu sehen, dass er meinen Heimweg kannte. In so einer kleinen Stadt war es wahrscheinlich schon vor meiner Ankunft bei meinen Mitschülern bekannt gewesen, wo ich wohnen würde.
Bald erreichten wir die Abzweigung, die von der Landstraße zu unserem Haus führte.
Martin machte Anstalten abzubiegen, doch ich rief ihm zu, dass ich es nun alleine schaffen würde. Schließlich hatte ich diesen Abschnitt ja auch auf dem Hinweg ohne Licht bewältigt. Martin sah mich skeptisch an. Ich bestand jedoch darauf, das letzte Stück alleine zu fahren, rief Martin noch: „Danke schön fürs Bringen“ zu und bog in den holprigen Feldweg ab. Martin rief mir: „Dann bis Montag“ zurück und machte sich auf den Heimweg.
Für einige Augenblicke hörte ich noch das immer leiser werdende Quietschen seiner Fahrradkette, bis ich schließlich allein im Dunkeln zurückblieb. Eine Wolke hatte sich vor den Mond geschoben und die Dunkelheit kam mir mit einem Mal undurchdringlich vor. Vorsichtig trat ich in die Pedale und holperte von einem Schlagloch ins nächste. Seufzend hielt ich mein Rad an, und stieg ab. Es hatte keinen Sinn zu fahren; bei diesem Versuch würde ich mir womöglich den Hals brechen. Ich beschloss, das Rad die wenigen hundert Meter bis zur Haustür lieber zu schieben.
Im Dunkeln schien der Weg kein Ende zu nehmen. Angestrengt spähte ich nach vorne, um die Silhouette unseres Hauses auszumachen, konnte jedoch außer undurchdringlicher Finsternis nichts entdecken. Plötzlich kamen mir Zweifel, ob ich überhaupt in den richtigen Seitenweg abgebogen war. Meinem Gefühl nach hätte ich schon längst bei unserer Gartenpforte sein müssen und der Weg zu unserem Haus war auch nicht derartig Schlagloch übersät. Die Erkenntnis durchzuckte mich wie ein Blitz. Ich war auf dem Weg zum Eulenhof und stand wahrscheinlich gerade kurz vor der Hofeinfahrt.
„Mist“, schimpfte ich laut vor mich hin. „Wie dämlich muss man sein, um seinen eigenen Nachhauseweg nicht zu finden!“
Entnervt drehte ich mein Rad, als mich ein leises, pfeifendes Geräusch zusammenzucken ließ. Ich lauschte erschrocken. Das Pfeifen schien über mir im Nachthimmel zu sein. Angestrengt spähte ich hinauf, konnte aber nichts erkennen.
Vielleicht war eine Eule auf der Jagd. Womöglich bewohnten doch noch einige das verfallene Gemäuer. Es hieß vermutlich nicht ohne Grund Eulenhof.
Energisch schob ich mein Rad Richtung Hauptstraße. Auf Naturbeobachtungen mitten in der Nacht hatte ich echt keine Lust. Die Eule schien sich jedoch von mir nicht gestört zu fühlen, ich konnte hören, wie sie in einiger Entfernung ihre Kreise zog, denn das Pfeifen wurde mal lauter und mal leiser. Offenbar hatte aber das Tier Lust auf ein paar Menschenbeobachtungen, denn mit einem Mal hatte ich das Gefühl, dass es direkt auf mich zu segelte. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, und für einen unwirklichen Moment fürchtete ich, die nächtliche Beute einer überdimensionalen Eule zu werden, so nah schien sie zu sein. Im nächsten Augenblick hörte ich ein Niesen und das Geräusch verschwand in der Nacht. Niesen? Konnten Eulen niesen?
Eine Gänsehaut kroch meinen Rücken hinauf. Eulen konnten nicht niesen. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder ich hatte mir das Niesen eingebildet oder ein niesendes Tier war über meinen Kopf hinweg geflogen. Beide Möglichkeiten erschreckten mich in gleichem Maße. Sollte ich mir tatsächlich nicht vorhandene Geräusche einbilden, so war es sicherlich ratsam, einen Arzt aufzusuchen. Sollte aber tatsächlich ein niesendes Tier über meinen Kopf hinweg geflogen sein, so wollte ich es heute Nacht keinesfalls näher kennen lernen. So schnell ich konnte, schob ich mein Rad durch das unwegsame Gelände und erreichte wieder die Landstraße. Erleichtert schwang ich mich auf meinen Sattel und fuhr die Straße entlang, bis ich die richtige Abzweigung zu unserem Haus erreichte.
Schon von weitem konnte ich lautes Bellen hören. Ich holperte und stolperte mit meinem Rad dem tröstlichen Geräusch entgegen und war echt froh darüber, dass Wotan zu Hause war.
Am nächsten Morgen wurde ich von einem wütenden Bellen geweckt.
Schlaftrunken fragte ich mich, ob Wotan noch immer bellte, aber dann erinnerte ich mich daran, dass er, als ich am Abend zuvor endlich die Haustür aufgeschlossen hatte, in ein begeistertes Jaulen verfallen war, das erst aufgehört hatte, als ich ihn in den Garten ließ, damit er noch mal das Beinchen heben konnte. Konnte es sein, dass ich ihn im Garten vergessen hatte? Offenbar - denn ich war nach den Geschehnissen des vorherigen Abends todmüde in mein Bett gefallen und in einen traumlosen, bleiernen Schlaf gesunken. Ein schlechtes Gewissen beschlich mich: der arme Wotan hatte die ganze Nacht draußen verbringen müssen. Aber es war nicht kalt und er hatte ein dickes Fell. Nach meiner nächtlichen Begegnung mit mysteriösen Waldbewohnern war es vielleicht auch gar nicht schlecht, wenn das Pelzmonster ein paar Wachrunden gedreht hatte.
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