Am nächsten Morgen waren wir alle früh auf. Meine Eltern waren sehr aufgeregt und liefen zwischen Frühstückstisch, Koffern und Kleiderschrank hin und her. In der letzten Minute fiel ihnen auf, dass ich auch mit ausreichend Geld versorgt werden musste und sie legten mir noch schnell zwei Kreditkarten auf den Esstisch, flüsterten mir die dazugehörigen Geheimnummern ins Ohr, beteuerten, dass alle laufenden Kosten für unser Haus automatisch monatlich beglichen würden und ich mich um nichts zu kümmern hatte, und schon hörten wir ein Hupen vor dem Gartenzaun.
Der Fahrer des geologischen Instituts wartete draußen, um meine Mutter und meinen Vater zum Flughafen zu bringen. Gemeinsam schafften wird den unglaublichen Berg von Taschen und Koffern in den Wagen.
Dann ging alles ganz schnell. Mein Vater nahm mich fest in den Arm und drückte mich.
„Du schaffst das schon“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wir melden uns, sobald wir angekommen sind.“
Meine Mutter unterdrückte ein paar Tränen und ich hatte auch einen großen Kloß im Hals, als sie mich umarmte.
„Du wirst sehen, es wird prima mit Tante Rosie. Nach ein paar Tagen wirst du deine alten Eltern gar nicht mehr vermissen.“
Dann beugten sie sich beide herunter zu Wotan, der neben uns stand und die Szene skeptisch beäugte.
„Wotan, alter Freund, mach es gut. Sei nett zu Mia. Wenn wir in einem Jahr wieder da sind, wollen wir hier einen braven Hund sehen.“
Wotan wedelte unsicher mit dem Schwanz und blickte zu mir hoch. Ich sah ihn an und in Anbetracht der Tatsache, dass er nun meine Restfamilie darstellte, kam er mir irgendwie nicht mehr so schrecklich vor.
Nun war es unwiderruflich. Das Auto startete und fuhr den schmalen Weg, der von unserem Haus zur Hauptstraße führte, entlang. Ich sah die winkenden Silhouetten meiner Eltern kleiner und kleiner werden, bis der Wagen abbog und aus meinem Blick verschwand. Für einen Moment fühlte ich mich sehr alleine.
„Na, komm mit“, sagte ich zu Wotan und ging voraus Richtung Haustür.
Mit einem Blick zurück vergewisserte ich mich, dass das Gartentor verschlossen war, damit das Fellmonster keine Jagd auf vorbeikommende Radfahrer machen konnte. Wotan folgte mir auf dem Fuß und gemeinsam betraten wir den Hausflur. Es war noch nicht einmal Mittag und ein langer Tag lag vor mir.
Scheiße, nun saß ich echt alleine in der Provinz.
Ich beschloss, zunächst einmal meine Hausaufgaben zu erledigen, ging hinauf in mein Zimmer, setzte mich an meinen Schreibtisch und zog mein Mathebuch aus dem Stapel Lehrbücher hervor, der sich vor mir auftürmte. Ich streckte meine Füße unter dem Tisch aus und stieß unvermutet auf einen Widerstand. Was war das? Mit dem rechten Fuß stupste ich gegen etwas Großes, Festes. Ich blickte hinab und sah in ein zottiges Gesicht. Wotan hatte es sich unter meinem Schreibtisch bequem gemacht. Offenbar kam auch er sich einsam vor. Nun gut, wir konnten es uns auch gemeinsam gemütlich machen.
Nach zwei Stunden hatte ich sämtliche Aufgaben erledigt und war hungrig. Ich stand auf und ging hinunter in die Küche. Ein grauer Schatten folgte mir.
„Hast du auch Hunger?”, fragte ich das Pelzmonster. Eigentlich wurde Wotan nur zweimal am Tag gefüttert – morgens und abends. Aber dem Riesenvieh konnte eine Mahlzeit zu viel auch nicht schaden und ein kleiner Snack würde ihn vielleicht von seinen trüben Gedanken ablenken.
Während Wotan mit ekligen Schlabbergeräuschen seinen Napf leerte, überlegte ich, was ich mit dem angefangenen Tag machen sollte. Ich konnte Kathi eine Nachricht schicken und fragen, ob sie zu mir in die Einöde kommen wollte. Kathie war so etwas wie eine Freundin. Die einzige, die ich bis jetzt hier gefunden hatte. Wir gingen in die gleiche Klasse.
Sie war nett und versuchte ständig, mich in ihre Landcommunity zu integrieren. Aber heute hatte ich mehr Lust, den Rest des Tages allein zu verbringen und es bis zu Tante Rosis Ankunft auszukosten, mein eigener Herr zu sein. Es war ein wunderbar warmer Tag, den ich gut mit einem Buch im Liegestuhl auf der Terrasse verbringen konnte.
Wotan schaute von seinem Fressnapf auf und blickte mich an. Es half nichts; zuerst musste das Fellmonster vor die Tür. Ich beschloss, mit ihm einen kurzen Spaziergang zu wagen und holte Leine, Halsband und Maulkorb. Leine und Halsband kannte er schon, der Maulkorb hatte heute Premiere.
Wotan blickte misstrauisch, als ich mich ihm mit meiner Ausrüstung näherte. Ich überlegte; war es günstiger, ihm zuerst das Halsband und dann den Maulkorb umzulegen, oder umgekehrt? Ich entschloss mich für das Halsband und streifte es ihm kurz entschlossen über. Wotan hielt still. Nun noch der Maulkorb – ich wollte nicht mit ansehen, wie Wotan auf unserem ersten gemeinsamen Ausflug eine unschuldige Kreatur verspeiste, die ihm versehentlich in den Weg lief.
„Na, Wotan“, redete ich beruhigend auf ihn ein, um auch mir Mut zu machen.
„Schau mal hier, ein Maulkorb. Der wird dir gut stehen.“
Zu meiner Überraschung hielt Wotan still, als ich ihm den Maulkorb überstreifte. „Entschuldige mein Freund, aber das muss zu deinem und vor allem zum Schutz aller anderen Lebewesen sein“, erklärte ich ihm und befestigte die Leine am Halsband.
Am sichersten war es, wenn wir einfach durch den Wald streiften. Die Chance, dort auf andere Spaziergänger oder Radfahrer zu treffen, war relativ gering. Wenn Wotan neben mir ging, reichten seine Schultern bis zu meiner Hüfte, denn mit 1,60 m war ich nicht besonders groß. Hob er den Kopf, so konnte er mir fast in die Augen sehen. Im Zweifelsfall hätte ich seiner Körperkraft nichts entgegenzusetzen, auch wenn ich mich selber nicht als schwächlich bezeichnen würde. Blieb nur zu hoffen, dass er nicht beschloss, sich selbstständig zu machen. Wir traten hinaus, gingen durch unseren Garten um das Haus herum, verließen ihn durch die Hinterpforte und schlugen den Weg Richtung Wald ein, der unmittelbar hinter unserem Haus begann. Eigentlich war ich noch nie alleine im Wald spazieren gegangen. Wenn ich es recht bedachte, war ich, seit wir hier wohnten, noch nie dort gewesen, obwohl er direkt hinter unserer Tür lag.
Ein schmaler Pfad führte von unserem Gartenzaun durch eine kleine Wiese direkt auf den Wald zu. Wotan schien es eilig zu haben, den passenden Baum zu finden, denn er zog energisch an der Leine. „Mach mal langsam, Wotan!“, rief ich ihm zu, aber erwartungsgemäß hatte mein Appell keinen Erfolg.
Wir erreichten ein dichtes Laubdach und Wotan hob ohne zu zögern sein Bein am ersten Baum, der seinen Weg kreuzte. Offenbar pressierte es.
Während er sein Geschäft verrichtete, blickte ich mich um. Wir standen an einer Weggabelung. Der Weg führte zur Linken am Waldrand entlang Richtung Dorf, zur Rechten führte er in geschwungenen Linien den Hang hinauf. Wotan nahm mir die Entscheidung, in welche Richtung wir gehen sollten, ab. Entschlossen setzte er seinen Weg den Hang hinauf fort und mir blieb nichts anderes übrig, als ihm am anderen Ende der Leine zu folgen. Es wirkte, als ob ihm dieser Weg vertraut war – wahrscheinlich war dies eine der Routen, die sonst mein Vater mit ihm ging. Da das Fellmonster sich hier bestens auszukennen schien, beschloss ich, ihm die Führung zu überlassen und wir trotteten eine ganze Weile den Waldweg entlang.
Wotan hob in regelmäßigen Abständen das Bein oder schnupperte ausgiebig an den verschiedensten Stellen oder tat beides in umgekehrter Reihenfolge. Ich hing meinen Gedanken nach und fragte mich, ob meine Eltern wohl schon über den Wolken schwebten, als wir plötzlich und unvermittelt eine Lichtung erreichten, die an einen kleinen See grenzte. Mit einem Mal standen wir im glänzenden Sonnenlicht auf einer blühenden Wiese und kristallklares Wasser schimmerte uns entgegen.
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