Der Hakennasige sprach weiter, seine Stimme wurde leiser. Bernhard hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Ein Granatsplitter, Pawlik ...« Der Hakennasige griff sich zwischen die Oberschenkel. »Mann, Pawlik – ich will sie nicht verlieren, sie ist doch meine Frau – versteh doch. Also würdest du – was soll ich sagen – würdest du mir, wo du doch mein Freund bist – würdest du uns aushelfen?«
Schritt für Schritt und leicht schwankend entfernten sich die beiden. Die Hände des Hakennasigen waren im Ärmel von Pawliks Joppe verkrampft.
»Was ist denn nun? Komm schon, Städter!« Jessner-Franz fuchtelte bedrohlich mit seinen knochigen roten Fäusten vor Bernhard herum.
Bernhard sah zu Karla, die den beiden Männern ein paar Schritte hinterhergelaufen war und nun vor einer Hausmauer kauerte und ihre schmutzigen Hände aufs Gesicht drückte. Er durchbrach den Kreis der überraschten Dorfkinder und rannte zu ihr. Die Jungen und Mädchen sprangen sogleich auf, pfiffen und klapperten mit den Kochgeschirren. Karla drückte den Kopf auf ihren Schoß, ihre Schultern zuckten. Bernhard schob verlegen die Hände in die Hosentaschen. Er fragte: »Der mit der Vogelnase – das ist doch dein Vater?«
Karla schob sich, den Rücken an der Hausmauer, langsam hoch und rieb mit dem Saum des Kleides die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie schluchzte auf und sagte: »Abends – da bringt er manchmal Männer mit nach Hause. Mich – schickt er ins Bett ... Ich kann aber nicht schlafen. Er – er läuft in der Küche auf und ab, oder er schärft auf dem Hof die Sense ... Und Mutter – sie lacht dann so laut, nein – sie schreit ...«
Karla drehte sich von ihm weg, blieb aber stehen.
Bernhard ging zu den Jungen und Mädchen zurück. Er sah Jessner in die Augen und wusste, dass er ihm wieder unterliegen würde.
»Tauschen wir«, sagte Bernhard. »Mein Brot gegen deinen Spiegel.«
Die Jungen und Mädchen riefen wild durcheinander. Jessner musterte Bernhard, dann sah er kurz auf seine wunden Hände und sagte: »Okay. Tauschen wir.«
Unter dem Geschrei der Kinder wechselten Brot und Spiegel den Besitzer. Bernhard lief zurück zu Karla, die ihn verunsichert, aber neugierig ansah. In einigem Abstand blieb er vor ihr stehen, streckte den Arm aus und reichte ihr wortlos den Spiegel.
Sie nahm ihn zögernd, sah hinein und zupfte mit flinken Fingern an ihren Haaren, spuckte sich auf den Handrücken und wischte damit über Stirn und Wangen.
Bernhard lachte leise auf. Eine sanfte warme Welle ging ihm durch Kopf und Brust. Er griff unwillkürlich nach ihren Händen, zuckte aber zurück, bevor er sie berührt hatte.
Aus einem Gehöft schoss mit aufheulendem Motor ein Jeep heraus. Drei amerikanische Soldaten saßen darin. Vor ihrer Brust hingen Maschinenpistolen. Ein vierter Soldat, dunkel wie die Nacht, saß lässig am Steuer des Wagens und rief ihnen lauthals lachend, die Kinder nachahmend zu: »Give me chocolate! Give me chewing gum!«
Der schwarze Ami lenkte den Jeep gewagt von einer Straßenseite zur anderen. Er hupte dabei anhaltend, dass ein schriller Ton alle anderen Geräusche übertönte. Staub wirbelte hoch auf. Die anderen Soldaten lehnten sich weit aus dem offenen Wagen heraus. Die Maschinenpistolen schlugen gegen das Blech des Autos. Ein Soldat warf in hohem Bogen eine Tafel Fliegerschokolade in die Straßenmitte. Der Jeep hielt an mit kreischenden Bremsen. Die Soldaten lehnten sich in den Sitzen zurück und warteten gespannt ab, welches der Dorfkinder wohl die Prügelei um die begehrte Schokolade gewinnen würde. Bernhard erreichte die Tafel Schokolade noch vor Jessner-Franz. Er presste sie an seine Brust und rannte wie um sein Leben durch die winkeligen Gassen des Dorfs und den Hügel hinauf zum Gehöft der Großeltern.
Eine Reise zurück (Verbotene Türen, 1985)
Bernhard war angespannt und ohne Hoffnungen in das Dorf der drei Hügel zurückgekommen. Der Bauernhof der Großeltern, die Kirche und der Friedhof überragten weiterhin die kleinen buckeligen Häuser, die sich zu beiden Seiten der kopfsteingepflasterten engen Straße aneinanderdrängten. Nichts hatte sich verändert, und doch erschien ihm alles fremd. Die Wirklichkeit zerstörte manchen Zauber der Erinnerung, und er machte die Entdeckung, dass zurückgeholte Vergangenheit schmerzliche Enttäuschung mit sich brachte. Das Gefühl der Fremdheit kam für ihn nicht vom Äußeren der Menschen und Dinge, sondern aus ihrem Inneren. Auf dem Friedhofshügel sang wie damals der Wind in den gewaltigen uralten Bäumen, aber seine Melodie war eine andere; das Wasser des Baches hatte noch die gleiche Kälte und Beredsamkeit, aber Bernhard verstand seine Worte nicht mehr; die Sonne erkannte er nicht mehr als die ihm Glück verheißende goldene Murmel, derentwegen er in die Wipfel der Bäume gestiegen war, sie war ein fremdes Gestirn, von dem Bruder Werner ihm gesagt hatte, dass seine mittlere Entfernung von der Erde einhundertneunundvierzig Komma sechs Millionen Kilometer betrüge. Die Menschen hier erschienen ihm wie verwandelt. Darüber erschrak er.
Es war Sommer, aber die Kinder waren nicht auf den Feldern. Auf dem Friedhofshügel belauerten zwei Jungen, hinter schief stehenden Grabsteinen versteckt, einander. Beim Umherirren fand er heraus, dass die älteren Jungen und Mädchen Mitglieder im neu gegründeten Ruderverein »Aufbau Jöseritz« waren. Sie ruderten auf dem Fluss oder arbeiteten in einem Schuppen mit Laubsäge, Sperrholz und Leinen an einem Bootskörper. Am Flussufer standen geflickte Zelte, in denen die Jungen und Mädchen übernachteten. Wer nicht bei den Ruderern war, trainierte auf dem Fußballplatz im Nachbardorf. Die Mädchen besuchten einen Zirkel für Volkstanz. Jeden Sonnabend gab es im ehemaligen Vereinszimmer vom Gasthof »Zum Ross« eine Filmvorführung oder Tanzveranstaltung. Die Jungen und Mädchen sprangen dann an den Fenstern hoch, um neugierige Blicke nach drinnen zu werfen. Die Kleinen spielten Verstecken und Haschen, bis sie von den Eltern oder Geschwistern nach Hause gerufen wurden.
Bernhard traf bei den Bootsleuten auf alte Bekannte. Sofort hatte er Jessner-Franz im Blick. Der Junge war noch länger geworden, die Narbe zwischen seinen Augen schien sich vertieft zu haben, seine Hände waren blaurot, das Haar war kurz geschnitten und sturzelte ihm in Büscheln in die Stirn. Der Stimme des ehemaligen Tagelöhnersohnes war anzuhören, dass er bei den Bootsleuten etwas galt. Er rannte von einem zum anderen, packte dort und da mit zu und hatte ständig was zu rufen und zu fluchen. Er hielt sich oft bei Karla auf, die gewachsen war und statt der Zöpfe die Haare kurz trug, aber sonst so aussah, wie er sie in Erinnerung hatte. Bernhard bemerkte schnell, dass Jessner-Franz sie nie anschrie und oft ihren Blick suchte.
Da kam Jessner-Franz zu den Weidensträuchern gerannt, hinter denen Bernhard sich verbarg.
»He! Was hast du hier zu suchen?«, rief er. »Kannst du nicht lesen? Betreten verboten!«
Bernhard trat aus dem Schatten der Büsche.
»Was willst du? Ich kenne dich nicht. Du bist nicht von hier. Also hau ab, bevor ich dir Beine mache!«
Bernhard sah den Jungen nur böse an und rührte sich nicht vom Fleck. Die Jungen und Mädchen hatten ihre Arbeit unterbrochen und schauten herüber. Karla schrie kurz auf, ließ den Pinsel fallen, lief ein paar Schritte auf Bernhard zu und blieb dann stehen.
»Ist was?« Jessner-Franz sah fragend zu ihr. »Kennst du den?« Er drehte sich wieder Bernhard zu und sagte in alter Feindseligkeit: »Du bist der Mainbach, na klar. Der Bernhard Mainbach bist du.«
»Ich bin kein Mainbach«, entgegnete Bernhard diesem Jungen, der wohl immer sein Feind sein würde. Zu Karla gewandt sagte er bestimmt: »Ich bin Bernhard Teichmann.«
Die Jungen und Mädchen flüsterten miteinander, lachten und wanden sich wieder ihrer Arbeit zu.
Читать дальше