Mittlerweile ist es schon recht spät und es wird ruhig im Abteil, einer nach dem anderen legt sich zurück und macht die Augen zu. Das beständige Geräusch „Ta-Tack, Ta-Tack,“ welches die Räder machen, wenn sie über die Schwellen rollen, begünstigt den Schlaf, es ist ein monotones, beruhigendes Klacken.
13.04.1900 Willkommen in Paris
Am nächsten Morgen rattert der Zug immer noch beständig Richtung Paris, nach und nach erwachen die Reisenden im Abteil. Doch schon nach kurzer Zeit wird der Zug immer langsamer und bleibt letztendlich stehen. Man verspürt plötzlich eine Unruhe im Zug und der Schaffner saust durch den Gang und ruft: „Tout le monde descend – alles raus hier!“ Dies bedeutet anscheinend, dass der Zug in Verviers an der Deutsch-Belgischen Grenze angekommen ist.
Die Reisenden packen alle ihr Handgepäck und verlassen genervt den Zug. Sie begeben sich ins Zollhaus und stellen sich in 5 Reihen an einem langen Tisch an, hinter dem auch 5 Zollbeamte stehen. In diesem Moment beobachtet Albert, wie sich Pastor Koch verhält, der seine Tasche ja mit Lebensmittel und auch Alkohol gefüllt hat - sein Reiseproviant. Er hätte sich besser nicht hinter ihn stellen sollen, denn wenn er seine Tasche öffnet und der Zollbeamte den Inhalt sieht, wird es ganz schön lange dauern, bis es in der Schlange weiter geht. Einer nach dem anderen wird abgefertigt und Albert wird immer nervöser. Nicht so der Pastor, der steht in aller Seelenruhe da und nähert sich Schritt für Schritt dem langen Tisch. Nur noch die eine Dame und dann kommt der Pastor an die Reihe...
Doch was ist denn jetzt los? Als die Dame vor dem Pastor an der Reihe ist kommt noch ein zweiter Beamter hinzu und die beiden fangen mit der Dame zu diskutieren an. Die Beamten auf Französisch und die Dame auf Deutsch. Das kann jetzt dauern, bis das geklärt wird und dann anschließend noch unser Herr Pastor. In diesem Moment schreitet Pastor Koch nach vorne und vermittelt zwischen den diskutierenden. „Madame, die Beamten versuchen Ihnen doch nur klar zu machen, dass Sie keine Lebensmittel mitführen dürfen, Sie müssen ihre zwei Wurststullen aus der Handtasche nehmen, sonst lassen Sie die Zollbeamten nicht durch. Seien Sie froh, wenn Sie nicht noch eine Strafe bekommen.“ Als die Dame etwas von einer Strafe hört, ist sie sofort ruhig und überlegt kurz, was sie als nächstes machen soll, während der Pastor sich an die Beamten wendet und ihnen auf Französisch mitteilt, das die arme Frau nichts davon wusste und natürlich die beiden Brote entsorgen wird. Die beiden Zollbeamten schauen die Dame streng an, während diese die Brote in aller Eile mürrisch verschlingt. Zu aller Zufriedenheit verschließt der Zollbeamte schließlich die Tasche und macht sein Prüfzeichen dran. Die anderen vier Warteschlangen sind schon fast abgearbeitet und der Beamte muss sich nun sputen, da der Schaffner an der Türe steht und mit dem Finger auf seine Uhr zeigt, da der Zug schon Verspätung hat.
Als nun Pastor Koch an der Reihe ist, bedankt sich der Beamte für seine Hilfe, zeichnet ohne hineinzuschauen seine Tasche ab und Albert ist an der Reihe.
Dieser ist noch ganz baff vom Pastor, als ihn der Zollbeamte verärgert zum wiederholten Male fragt, ob er etwas zu verzollen hätte. Als Albert dies verspätet verneint, nimmt der Zollbeamte seine Tasche in die Hand und räumt alles auf den Tisch. Man soll einen viel beschäftigten Beamten nicht warten lassen. Albert bereut es, dass er einen Satz Kleidung zum Wechseln in seinem Handgepäck verstaut hatte, denn ganz oben auf dem Stapel, den der „nette“ Beamte aus seiner Tasche holte, liegt natürlich seine Unterwäsche und der gute Albert merkt wie sich Isabell und Sophie hinter ihm amüsieren. Jetzt ist auch er genervt und gestresst und begibt sich murrend in den Warteraum, wo er Pastor Koch trifft. „Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu. Wenn die wüssten, was Sie alles in ihrer Tasche haben, hätte man Sie wohl eingesperrt.“ „Wieso sind Sie denn so gereizt mein lieber Herr de Menier, ich habe Ihnen doch gesagt, dass der Herr für mich sorgt und ich noch nie eine Tasche öffnen musste.“ „Wir werden sehen, ob Sie auch bei der Kontrolle an der Französischen Grenze davonkommen“, entgegnet Albert und ist wirklich gespannt, ob der Pastor beim nächsten Zollamt erwischt wird.
„Das ist ein Skandal!“ mit diesen Worten taucht Isabell hinter den beiden Herren wutschnaubend auf. Süß wie sie aussieht, wenn sie wütend ist. Sie lässt sich auch kaum von Sophie beruhigen, bis sie dann erzählt, wieso Isabell so aufgebracht ist. „Ich wollte meinen Vater überraschen und ihm zwei Packungen seiner Lieblings-Zigaretten mitbringen, da er die in Paris nicht bekommt und da nimmt man mir die eine weg und sagt mir, ich dürfte nur 12 Stück mitnehmen. Ich wette der hässliche Kerl raucht sie nach Feierabend.“ „Wussten Sie nicht, dass man nicht mehr einführen darf? Sie hätten doch die anderen 12 Zigaretten Fräulein Sophie geben können, dann hätte jeder die maximale Menge gehabt“, als Albert dies erwähnt, ärgert sie sich noch mehr. „Wieso habe ich nicht selbst daran gedacht! Aber wenn der Beamte so mürrisch guckt, kann man nicht nachdenken. Wenigstens musste ich nicht meine Geheimnisse, wie Sie die ihren offenbaren.“ Womit sie wohl auf die Unterwäsche, die Albert auspacken musste, anspielt und den Ärger an den armen Albert auslässt. Dieser schmollt kurz, und bevor er noch etwas erwidern kann flüstert ihm Sophie zu: „Machen Sie sich nichts daraus, Sie sind mit Sicherheit nicht der erste, der so bloßgestellt wird, nachher tut es ihr sicherlich leid, dass sie etwas zu ihrer peinlichen Situation von vorhin gesagt hat.“ Bevor das Thema noch weiter erörtert wird, öffnen sich zum Glück die Türen des Warteraumes und alle können wieder in den Zug steigen.
Während die Gesellschaft ihr Abteil betritt, wendet sich Isabell an Albert: „Es tut mir schrecklich leid Herr de Menier, dass ich Sie so bloßgestellt habe, aber ich war in diesem Moment so verärgert und da geht manchmal das Temperament mit mir durch.“ „Es ist schon gut Fräulein Schubert, machen Sie sich keine Gedanken, ich bin hart im Nehmen, so eine Kleinigkeit bringt mich nicht aus der Ruhe.“
Um wieder Ordnung in das Abteil zu bringen, beginnt der Pastor mit einer Unterhaltung, und nicht wie zu erwarten, über Essen oder Kolonien, nein, er wendet sich an Isabell: „Bereuen Sie es nicht, dass Sie am 6. Mai nicht in Berlin sind? Da ist doch der Geburtstag unseres Kronprinzen und die große Feier zu seiner Volljährigkeit.“ „Das habe ich mir auch schon überlegt, wie ich das bewerkstelligen soll, eigentlich muss man da in Berlin sein, selbst der österreichische Kaiser Franz kommt mit Erzherzog Ferdinand zwei Tage zuvor am 4. Mai in die Stadt. Der österreichische Kaiser war das letzte Mal kurz nach dem Tode seines Sohnes da - und da war ich noch ein kleines Mädchen. Die ganze Stadt wird in einem Ausnahmezustand verfallen. Man wird keinen Friseurtermin mehr bekommen, die Schneider sind ausgebucht, die Schuster haben keine Zeit mehr und bei den Juwelieren gibt es nur noch den langweiligen Rest, mit dem man kaum auffällt, also wie gesagt eine Katastrophe.
Was denken Sie wie es wäre, wenn ich dort mit einem Kleid von einem der Pariser Schneider der Grande Couture wie Redfern, Felix oder einem anderen aus dem Quartier de l`Opéra oder de la Bourse auftauchen würde, die würden sich alle nach mir umdrehen. Vielleicht lasse ich mir noch ein schönes Schmuckstück bei einem der Juweliere aus der Rue de la Paix anfertigen, die Zeichner kommen direkt zu mir nach Hause und entwerfen ein Schmuckstück nach meinen Vorstellungen. Natürlich wäre es sinnvoll, wenn ich davor schon ein passendes Kleid als Grundlage hätte.“ „Glauben Sie, dass Sie das alles zeitlich hinbekommen? Vor allem müssten Sie sehr früh aus Paris zurück fahren. Es wäre doch schade, wenn Sie nur die Hälfte dieser schönen Stadt sehen würden.“ Mit diesen Worten versucht der junge Albert sein Bedauern zu äußern, dass diese hübsche Frau so schnell wieder aus seinem Leben gerissen wird – er kann Paris schließlich das nächste halbe Jahr nicht verlassen. Die Stadt der Liebe verwandelt sich für Albert wohl sehr schnell in die Stadt der Trauer und der Sehnsüchte.
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