Jutta steht ratlos mitten im Raum und sagt leise: „Du weißt ganz genau, dass schon lange nichts mehr in Ordnung ist. Beruhige dich erst einmal, dann können wir reden. Ich bin in der Küche.“
Sie kocht Tee, um sich selbst abzulenken und hofft, dass ihre innere Unruhe bald nachlässt.
Sie möchte zu gern wissen, warum Jenny einfach so, ohne Absprache, gekommen ist.
„ Typisch Rüdiger. Setzt sie einfach ab und verschwindet ohne ein Wort. Das kann er gut. Hoffentlich erzählt mir Jenny bald, was passiert ist“ , denkt sie traurig.
Sie nimmt sich die nächste Kiste vor und räumt den Inhalt in den Schrank. Mitgenommen hat sie nur das Nötigste und das, was sie nicht so sehr an die letzten Jahre erinnert. Zum Glück gehört die Einbauküche zur Wohnung. Sie wüsste gar nicht, wovon sie Möbel bezahlen soll. Als erstes wird sie sich dringend um einen Job kümmern müssen. Mehrere Bewerbungen hat sie vor ein paar Tagen abgeschickt.
Nach einer halben Stunde kommt Jenny schniefend in die Küche.
Sie umarmt ihre Mutter und sagt leise: „Entschuldige.“
Jutta genießt den seltenen Augenblick, denn Jenny ist gegen Körperkontakt scheinbar allergisch. Sie lässt kaum Zärtlichkeit zu. So war sie schon immer.
„Komm, setz dich zu mir. Ich habe Tee gemacht“, sagt Jutta.
Jenny sieht sich um und stellt fest: „Das ist ja alles noch mehr als spärlich. Wie soll man sich denn hier wohl fühlen?“
„Weißt du, es kommt nicht so sehr auf die Einrichtung an oder wie viel jemand hat. Sondern, ob man mit Menschen zusammen ist, die man mag. Dann ist alles andere egal“, meint Jutta diplomatisch. „Erzählst du mir jetzt, was vorgefallen ist?“
„Nein! Darüber werde ich nicht sprechen“, sagt Jenny. Ihre Stirn zieht sich schon wieder zusammen. „Außerdem sind es nur noch acht Wochen bis zum Schuljahresende. Die werde ich doch zu Hause bleiben können. Du musst mir nur eine Entschuldigung schreiben.“
„ Ich glaube nicht, dass das so einfach ist“ , denkt Jutta. „Aber, wie heißt es doch so schön – abwarten und Tee trinken. Dann wollen wir diesen Rat mal befolgen.“
Sie prostet ihrer Tochter zu.
„Ich gehe auf keinen Fall wieder zurück. Nicht mal zu Besuch fahre ich dort hin“, sagt Jenny mit Nachdruck.
„Deine Großeltern wirst du doch ab und zu besuchen, oder?“, fragt Jutta.
„Wenn du wüsstest, wie wütend die auf dich sind. Die haben keinen Tag versäumt, ihre Wut auf dich an mir auszulassen. Und ständig dieses Gesäusel: `Aber Jennylein, du wirst doch hier bleiben. Du kannst doch deinen Papa und uns nicht auch noch allein lassen.´ Als wäre ich denen jemals wichtig gewesen. Opa hat mir oft genug gesagt, dass ich ein Junge hätte werden sollen. Und dieses: `Aber, na ja, man muss halt nehmen was man kriegt´, konnte ich schon lange nicht mehr hören. Dabei hat er mich immer abschätzend angesehen. Denken die vielleicht, das kann ich einfach vergessen. Ich bin doch nicht blöd.“
Jutta versucht, Jenny auf andere Gedanken zu bringen.
„Trink doch erst mal deinen Tee.“
Jenny hebt die Tasse an den Mund und riecht, dann stutzt sie und trinkt. Als sie die Tasse absetzt, grinst sie ihre Mutter an.
„Draußen sind fast dreißig Grad und du machst uns Weihnachtsmischung. Wie abgefahren ist das denn?“
Jutta ist erleichtert und hofft, etwas Freundlichkeit in die Unterhaltung zu bekommen.
„Ich habe noch nichts anderes im Haus. Wir könnten nachher zusammen einkaufen gehen und du suchst dir aus, was du möchtest. Und heute Abend machen wir ein leckeres Begrüßungsessen.“
„Na gut. Aber auf keinen Fall kaufen wir Lebkuchen, passend zum Weihnachtstee“, sagt Jenny und schmunzelt.
„Wenn du willst, kannst du Oma anrufen und ihr sagen, dass du schon da bist. Oder du besuchst sie einfach, damit du dieser Leere hier entkommst.“
„Das mache ich nachher. Ach so, ich soll dir ausrichten, dass Papa am Wochenende meine Möbel und den ganzen Rest herbringt. Ich packe jetzt erst einmal meine Tasche aus.“
Jutta möchte nur zu gern wissen, was zu Hause vorgefallen ist, will aber Jenny nicht unter Druck setzen, denn sie kennt ihre Tochter. Die muss schon von sich aus darüber sprechen wollen. Trotzdem freut sie sich, dass sie nicht mehr allein ist. Morgen wird sie sich um den Schulwechsel kümmern, damit es keinen Ärger gibt. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an. Eigentlich hätte Rüdiger das vor seiner Abfahrt zusammen mit Jenny in der Schule regeln können. Unverantwortlich von ihm, diese vorprogrammierten Probleme auf sie abzuwälzen. Zur Not wird sie eben alles auf ihn schieben.
Jenny hat unterdessen bei ihrer Oma angerufen und diese für den Nachmittag eingeladen.
„Oma kommt nachher. Sie hat aber gesagt, dass sie nicht so lange bleiben will. Ich weiß zwar nicht, was sie zu tun hat. Es ist wie ein Wunder, dass sie überhaupt kommt.“
„Sie war noch gar nicht hier. Ich bin ja gespannt, wie ihr unsere Wohnung gefällt“, meint Jutta und hat kein gutes Gefühl, denn sie kennt ihre Mutter bereits sechsunddreißig Jahre.
Jenny bietet sich an, den Tisch zu decken. Aus einer Kiste zaubert sie sogar Servietten, von denen Jutta gar nicht mehr weiß, diese eingepackt zu haben.
Sie erinnert sich dann doch: „Die hatte ich für Rüdigers vierzigsten Geburtstag besorgt. Gebraucht haben wir die nicht, denn er meinte, dass ihm so ein Firlefanz nicht auf den Tisch kommt. Ja, für seine Gesellschaft war eine abwaschbare Tischdecke ausreichend. Hauptsache die hochprozentigen Getränke wurden nicht knapp. Diese Erlebnisse werden mich wohl noch lange verfolgen“, denkt sie traurig.
Als Juttas Mutter eintrifft, kommt Jenny gleich aus ihrem Zimmer und geht freundlich auf sie zu.
„Hallo, Oma. Schön, dass du da bist. Komm, ich zeige dir unsere neue Wohnung.“
Die Oma steht da wie vom Donner gerührt, sieht ihre Enkelin entsetzt an und sagt statt einer Begrüßung: „Jenny! Wie siehst du denn aus? In diesen zerlumpten Sachen kannst du hier nicht rumlaufen, die sind dir doch alle zu groß und die Hose ist total zerschlissen. Da bringt es auch nichts, dass du einen Minirock darüber trägst. Und diese Frisur, wenn man das überhaupt so nennen kann. Dreifarbige Haare habe ich auch noch nie an einem vernünftigen Kind gesehen. Du siehst fürchterlich aus. Man könnte denken, du bist der Tierwelt entsprungen. Jutta! Ich verstehe nicht, dass du das duldest!“
Jenny ist über den Kommentar so erschüttert, dass sie ihre Oma mit weit aufgerissenen Augen anstarrt.
„Mutti, nun komm doch erst einmal rein“, sagt Jutta und versucht, die Wogen zu glätten. „Jenny hat den Tisch gedeckt. Wir können gemütlich Kaffee trinken und Eistorte essen, und nachher gibt es zur Feier des Tages Spaghetti Bolognese. Das hat Jenny sich gewünscht. Und schimpfe bitte nicht darüber, wie sie sich kleidet. Das ist heute modern.“
„Das kann ich mir nicht vorstellen. So läuft an meiner Schule kein Kind rum. Außerdem bleibe ich nicht lange. Ein Kaffee reicht, dann muss ich wieder nach Hause.“
„Nun setz dich doch erst mal“, sagt Jutta und schiebt ihre Mutter in einen Sessel.
Diese schüttelt immer noch den Kopf und fängt an zu jammern: „Dass das so kommen musste, habe ich von Anfang an gewusst und dir auch oft genug gesagt. Wie konntest du den nur heiraten? Hättest du mal lieber auf Vati und mich gehört. Aber unsere Warnungen hast du stets in den Wind geschlagen.“
„Mutti, Jenny ist da“, sagt Jutta mit einem warnenden Unterton. „Das wollen wir eigentlich etwas feiern.“
„Ja, ja. Und wie soll das mit der Schule werden? Du hast schon bisher nicht viel gelernt und gehörst nicht einmal zu den guten Schülern. Hättest du nicht erst das Schuljahr beenden können? Wann willst du das alles aufholen?“
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