Jenny kneift ihre Augen zusammen und bekommt einen zornigen Gesichtsausdruck. Jutta weiß jetzt wieder, warum sie vor dem Besuch ihrer Mutter ein mulmiges Gefühl in der Bauchgegend hatte.
„Mutti! Nun lass es doch endlich gut sein. Ich finde es schön, dass meine Tochter schon da ist. Wir fangen einfach neu an. Hier hast du ein Stück Eistorte.“
Sie reicht ihrer Mutter einen Teller über den Tisch.
Jenny ist der Appetit vergangen. Sie sieht wütend vor sich hin und beobachtet, wie ihr Eis langsam zerläuft. Jutta sitzt schweigend da und rührt ununterbrochen in ihrer Kaffeetasse. Das Geklapper des Löffels geht ihr selbst auf die Nerven, sodass sie ihre Tasse unsanft auf den Tisch stellt.
Ihre Mutter unterbricht das Schweigen. „Hast du schon Arbeit in Aussicht? Es ist doch wichtig, dass du dein eigenes Geld verdienst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dein Mann lange für euch sorgen wird.“
„Ich habe schon ein paar Bewerbungen abgeschickt“, antwortet Jutta. „Sicher wird sich eine Firma melden. In Steuerbüros werden ständig Mitarbeiter gesucht. Vielleicht habe ich Glück und kann mir sogar etwas aussuchen.“
„Na, wenn du meinst. Wer kann sich heute schon eine Stelle aussuchen? Da muss man nehmen, was man bekommt“, lacht ihre Mutter höhnisch und sieht abwertend auf Jutta. Dann schaut sie sich um und sagt: „Für diese Wohnung brauchst du ja noch so allerhand. Es sieht eher aus, als hätte jemand die Flucht ergriffen, als dass jemand eingezogen ist.“
Nun reicht es Jenny. Sie funkelt ihre Oma wütend an und sagt: „Meine Möbel bringt Papa am Wochenende. Ach ja, Mama, das habe ich fast vergessen. Das Schlafzimmer sollst du auch bekommen. Ist doch super, dann musst du erst mal nichts Neues kaufen.“
„Das hat er mir gar nicht gesagt. Mal sehen, was am Wochenende dann alles zum Vorschein kommt“, schwant Jutta nichts Gutes.
Ihre Mutter verzieht das Gesicht und fängt schon wieder an zu nörgeln: „Ich möchte trotzdem wissen, wie ihr euch das mit der Schule denkt. Ich hoffe doch sehr, dass Jenny nicht an meinem Gymnasium angemeldet wird. So wie sie rumläuft, wird sie sofort zur Außenseiterin. Da traue ich mich nicht mehr hin. Und wenn meine Kollegen erfahren, wie schlecht sie in der Schule ist, das ist eine Schande für mich. Du müsstest mal erleben, was für ein nettes und intelligentes Mädchen Tilly, die Tochter von deiner Schulfreundin Christine, ist. Die hat mit ihr überhaupt keine Probleme. Da wirst du neidisch, und ich schäme mich gleich doppelt für deine Tochter.“
„Woher willst du denn so genau wissen, welchen Leistungsstand Jenny hat? Das kannst du gar nicht einschätzen“, sieht Jutta ihre Mutter böse an und ist besorgt um Jenny. Sie fühlt sich gar nicht wohl, weil sie ja weiß, dass ihre Mutter wenigstens ein bisschen Recht hat. Aber dieses Recht zu haben, steht ihr nicht zu, denn sie hat es nie für nötig gehalten, Jenny jemals eine liebevolle Großmutter zu sein. Die unfreundlichen Bemerkungen ihrer Eltern konnte sie recht gut von Jenny fernhalten und war eigentlich immer froh, so weit weg zu wohnen. Aber alles Gute ist eben niemals beisammen.
Jenny stehen die Tränen in den Augen. Jutta sieht sie mitfühlend an, schüttelt den Kopf und will ihr damit sagen: „Mach dir nichts draus.“
Aber Jenny ist schon aufgesprungen, stürmt in ihr Zimmer und knallt die Tür hinter sich zu.
„Was ist denn das für ein Benehmen? Das hättest du dir mal trauen sollen, oder ich als Kind. Tagelang hätte ich hinterher nicht sitzen können“, nörgelt ihre Mutter weiter.
„Mutter! Jetzt ist es aber genug. Wir dachten, dass du dich wenigstens etwas freust, dass wir jetzt hier sind. Aber scheinbar ist das nicht so. Und mit der Schule wird sich schon alles regeln. Außerdem bist du eine erfahrene Lehrerin und kannst deiner Enkelin sicher helfen.“
„Das wäre ja noch schöner. Was ihr versaut habt, soll ich nun wieder hinbiegen. Und das bei so einem verstörten Kind. Nein, da habe ich genug eigene Probleme.“ Und etwas leiser fügt sie hinzu: „Ich habe dir immer gesagt, achte auf die Erbanlagen. Du konntest ja nicht hören. Das Ergebnis hast du jetzt täglich vor Augen.“
„Mutter! Jetzt reicht es aber!“, ruft Jutta entsetzt.
„Das meine ich auch. Ich muss gehen“, sagt ihre Mutter, steht auf, stürmt in den Flur und dreht sich noch einmal zu Jutta um und fragt: „Verabschiedet sich dieses Kind wenigstens noch von mir?“ Sie wartet einen kurzen Augenblick. Als nichts geschieht, stellt sie fest: „Das habe ich auch nicht anders erwartet.“
Jutta kann ihre Mutter nur noch mit den Worten: „Tschüss, Mutter“, verabschieden.
Sie ist über deren Äußerungen sehr erschrocken.
„ Selbst die Trauer über Vatis frühen Tod gibt ihr nicht das Recht, so mit mir und Jenny umzugehen . Als Kind hatte ich nie eine Chance, gegen sie anzukommen. Aber meine Tochter werde ich vor ihr beschützen“ , nimmt sie sich fest vor.
Sie braucht eine ganze Weile, um sich zu beruhigen. Deshalb räumt sie den Tisch ab und geht danach zu Jenny.
„He, Mäuschen. Oma ist gegangen. Es tut mir so leid. Einerseits sollten wir mit ihr Mitleid haben, denn sie hat es nicht leicht. Opa und sie wollten noch so viel zusammen erleben. Dass das nun nichts mehr wird, ist ihr bewusst geworden. Aber andererseits steht es ihr nicht zu, so mit dir zu sprechen. Lass ihr etwas Zeit. Sie muss dich ja auch erst einmal kennenlernen. Ihr habt euch so selten gesehen. Du weißt doch, dass der Klügere nachgeben soll. Dann zeig ihr doch, dass du die Klügere bist.
„Womit habe ich nur solche Großeltern verdient? War Oma schon immer so? Wie hast du mit der deine Kindheit überstanden?“, fragt Jenny ihre Mutter mitleidig.
„Leicht war es nicht. Mit gleich zwei Lehrern zu Hause, habe ich oft unter Strom gestanden.“
„Wie meinst du das?“, fragt Jenny entsetzt und reißt ihre Augen auf. „Haben die dich etwa mit einem Elektroschocker in Schach gehalten?“
„Nein, das sagt man nur so. Wenn jemand ständig Druck bekommt, zu lernen und sich zu benehmen, dann steht er unter Spannung, nervlich, meine ich.“
„Ach so. Ich dachte schon, die haben dich gequält. Gewundert hätte mich das nicht. Wenn man ständig aufpassen muss, alles richtig zu machen, das ist bestimmt nicht einfach.“
„Nein, ist es nicht. Deshalb bin ich etwas zu nachsichtig mit dir. Weil ich weiß, wie anstrengend es ist, immer wie ein kleiner Erwachsener auftreten zu müssen. Meine Eltern haben mich ständig beobachtet und gleich korrigiert, und für die Schule musste ich alles auswendig lernen. Sogar abends im Bett wurde ich noch abgefragt. Und wehe, ich wusste nicht alles“, erinnert sich Jutta wehmütig.
Sie empfindet wieder die Hilflosigkeit, die sie als kleines Mädchen spürte, und Angst, etwas falsch gemacht zu haben, bedrückt sie. Sie schüttelt die Gedanken ab und atmet tief durch. Jetzt muss sie sich nicht mehr von ihrer Mutter beherrschen lassen. Diese negativen Gefühle hat sie längst hinter sich.
„Ich weiß aber auch, dass es nicht ganz richtig ist, einem Kind immer alles durchgehen zu lassen“, sagt sie gespielt streng zu ihrer Tochter. „Also, fangen wir gleich mit etwas Erziehung an. Jenny, ab in die Küche. Du darfst das Abendessen vorbereiten.“ Lächelnd fügt sie hinzu: „Komm, wir machen es uns so richtig gemütlich. Wir schlagen uns den Bauch mit Spaghetti voll und dann kugeln wir uns auf die Luftmatratzen und schlafen bis morgen Mittag.“
Am nächsten Tag ruft Jutta in Jennys Schule an.
„Hallo, Herr Direktor Holm, hier ist Jutta Seidel, die Mutti von Jenny Seidel aus der Klasse 8a. Ich bin umgezogen und meine Tochter möchte bis zum Schuljahresende doch nicht bei ihrem Vater bleiben. Wäre es möglich, dass ich Jenny schriftlich abmelden kann?“
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