Tilly guckt verständnislos in die Runde und wird von Christine aufgeklärt.
„Olli hat den Film eingelegt und alle saßen gelangweilt auf ihren Plätzen. Sie konnten sich auch nicht vorstellen, dass das Leben in der Wüste spannend sein soll. Olli sah nach, dass der Herr Vogel wirklich nicht mehr in Sichtweite war und startete den Film. Nach dem Vorspann setzte ein kurzes Gejohle ein, danach war es ganz still im Zimmer und auch die letzte Schlafmütze wurde aufmerksam. Alle staunten nur noch.“
„Dem tollen Reiner lief sogar das Wasser im Mund zusammen“, erzählt Olli weiter. „Der Titel lautete nämlich `Das wüste Leben der Agnes Busch´. Nur unsere Streberin Annegret Müller bekam Panik und wollte mich dazu bringen, den Film abzustellen. Da hat sie aber nicht mit den anderen Jungs gerechnet. Die haben sie einfach auf ihrem Stuhl fixiert. Als Herr Vogel reinkam, stutzte er kurz und brüllte los: `Was soll das denn? Das kann mich meinen Job kosten! Wagner, dafür fliegst du von der Schule!´“
„Olli hat ganz erstaunt getan und behauptet, dass er auch nicht weiß, wie das passieren konnte, denn die Hülle wäre die richtige. Der Film muss wohl in der Videothek vertauscht worden sein. Daran würde er ja nun mal nicht schuldig sein“, ergänzt Lydia.
„Herr Vogel war total verunsichert“, meint Jutta lachend zu Olli. „Er wusste nicht so recht, ob er dir glauben und trauen sollte.“
„Und wie hast du das gemacht?“, fragt Tilly.
„Na ja“, will Olli nicht so recht raus mit der Sprache, sodass Christine ergänzt: „Der Olli war doch der Schwarm von der kleinen Schwester vom Videothekenbesitzer. Die hat ihm gern einen Gefallen getan und natürlich gaaanz aus Versehen die Kassetten vertauscht.“
„Wir mussten ziemlich lange suchen, bis wir etwas Passendes gefunden hatten. Wir kannten uns in der Abteilung hinter dem Vorhang ja überhaupt noch nicht aus“, sagt Olli.
Tilly stellt enttäuscht fest: „Bei euch war immer was los. So etwas kann bei uns nicht passieren.“
„Nur gut. Da bleibt mir einiges erspart“, sagt Christine erleichtert.
Tilly geht in die Küche, um nachzusehen, ob in der Zwischenzeit der Auflauf fertig geworden ist.
Sie bringt Teller, gefüllt mit überbackener Hühnerbrust mit Gemüse und Nudeln, und stellt diese auf den Tisch.
„Wie das duftet“, schwärmt Lydia und lässt sich den ersten Happen auf der Zunge zergehen. „Wie hast du das nur wieder gemacht?“
„Ach, ganz einfach. Alles in einen Topf und dann eine Stunde in den Ofen – fertig“, antwortet Tilly lachend.
Nach dem Essen räumt Tilly den Tisch ab und sagt: „Ich lass euch jetzt alleine, aber beim nächsten Mal möchte ich eine andere Geschichte hören. Viel Spaß noch und gute Nacht.“
„Dass die Zeit so schnell vergeht und wir jetzt unseren Kindern einige Sünden und Untaten beichten, hätte ich damals nicht gedacht. Es ist aber schön, dass wir wieder zusammen sein können. Habt ihr eigentlich mal etwas von dem Rest der Klasse gehört?“, fragt Jutta in die Runde.
„Soviel ich weiß, will Streberin Annegret Müller ein Klassentreffen organisieren“, meint Olli. „Was wohl aus denen allen geworden ist? Die meisten Eltern wohnen noch hier. Da ist das sicher kein Problem, fast alle zu erreichen. Ich kann mich ja etwas umhören. Vielleicht lässt sich die schöne Müllerin herab und erlaubt mir, ihr zu helfen. Ich werde aber bemüht sein, mich im Hintergrund zu halten, damit ihr nichts vom Ruhm abhandenkommt.“
„Na, wenn du ihr das gleich so sagst, hat sie bestimmt kein Problem damit, dir die Arbeit zu überlassen. Ich wünsche dir viel Glück und starke Nerven“, sagt Lydia.
„Ja und grüß das Annegretchen von uns allen“, ergänzt Jutta.
„Wir können doch die alten Fotos schon mal raussuchen. Das wird sicher lustig“, schlägt Christine vor.
„Aber von mir nehmen wir nur Bilder“, äußert Jutta einen Wunsch, „auf denen ich von hinten zu sehen bin. Ich kriege heute noch die Krise, wenn ich sehe, wie ich damals rumlaufen musste. Schon alleine die Frisur. Buh. Wozu ich mich doch als Kind von meinen Eltern zwingen lassen musste. Und Lydia kann aus ihrem ersten Roman vorlesen. Einige ehemalige Mitschüler haben sicher daran Interesse und kaufen dann deine Bücher. Wer weiß denn schon, dass du berühmt bist, wenn du unter Pseudonym schreibst. Da kommt ja niemand drauf, dass unsere Lydia Bach dahintersteckt.“
Lydia grinst und sagt: „Und wir müssen unbedingt alle Lehrer dazu einladen. Hoffentlich können die sich nicht mehr an alles erinnern. Das wird bestimmt interessant.“
Als ein Telefon klingelt, zuckt Olli zusammen. Er sieht auf sein Display, stellt das Handy ab und sagt: „Oh Mann, ist das schon wieder spät. Mädels, es tut mir leid, aber ich muss nach Hause. Der Ärger in der Agentur reicht mir, da will ich nicht noch welchen mit Sybille riskieren.“
Jutta sieht Lydia an und sagt: „Dann fahren wir auch gleich mit.“
Jutta ist sehr zufrieden mit ihrem Neuanfang. Endlich kann sie ihre Freiheit genießen und etwas durchatmen. Das Wiedersehen mit Christine, Olli und Lydia hat ihr gut getan. Seit dem gemeinsamen Abend fühlt sie sich noch besser und ist überzeugt, dass ihr Entschluss, Rüdiger zu verlassen, genau richtig war.
Sie ist ganz in Gedanken versunken, als die Türglocke sie aufschreckt. Es klingelt Sturm. Verwundert geht sie zur Tür, denn sie erwartet keinen Besuch.
Sie staunt, dass Jenny und Rüdiger im Treppenhaus stehen.
Jenny stürmt an ihr vorbei und sagt nur wütend: „Wo ist mein Zimmer?“
Rüdiger stellt eine große Reisetasche vor Juttas Füße und sagt wütend zu ihr: „Ich bringe deine Tochter. Sie hat es bei uns nicht mehr ausgehalten. So verstockt wie sie immer ist, hat man ja keine Chance, vernünftig mit ihr zu reden.“
Jutta ist etwas verwirrt, denn es war ausgemacht, dass Jenny noch bis zum Schuljahresende bei ihrem Vater bleibt. Vorgewarnt hatte sie auch niemand, dass sie so überraschend auftaucht.
„Willst du reinkommen?“, fragt sie ihren Mann. „Du solltest mich wenigstens darüber aufklären, was geschehen ist. Wie denkt ihr euch das? Jenny muss doch zur Schule. Das ihr euch nicht einmal an Absprachen halten könnt.“
Aber Rüdiger ist schon wieder die ersten Stufen nach unten unterwegs und ruft nur zurück: „Du wirst doch mit deiner Tochter klarkommen, oder? Wer hat es denn auf dieses Theater angelegt und will die Trennung?“
Mit seinem letzten Wort klappt unten schon die Haustür zu. Jutta schließt die Wohnungstür und sucht ihre Tochter. Die hat in der Zwischenzeit jede Tür aufgerissen und ist gerade dabei, die einzelnen Räume zu inspizieren.
„Du darfst aber nicht denken, dass ich das kleinste Zimmer nehme. Da bekomme ich meine Sachen gar nicht unter. Ein bisschen Freiraum wirst du mir ja zugestehen, wenn du mich schon so plötzlich aus meinem Zuhause reißt“, sagt sie, ihrer Wut immer noch Luft verschaffend. „Hättest du nicht für uns ganz einfach eine Wohnung in Papas Nähe nehmen können? Musste es ausgerechnet dieses Kaff hier sein?“
Jutta geht zu ihr und will sie in die Arme nehmen.
Jenny dreht sich weg und sagt: „Lass das!“
So bleibt Jutta nur zu sagen: „Hallo, Jenny. Warum hast du denn nicht angerufen, dass du heute schon kommst?“
„Damit du keine Ausrede findest, mich abzuwimmeln. Weißt du eigentlich, was ich dort durchgemacht habe? Und alles nur wegen dir!“, schreit sie ihre Mutter an und wirft sich heulend aufs Sofa.
Jutta geht zu ihr und will sie trösten: „Ach, Jenny.“
Sie wird aber von ihrer Tochter weggestoßen. „Ach, Jenny. Ach, Jenny“, äfft diese ihre Mutter nach und tobt weiter: „Lass mich doch in Ruhe! Hauptsache dir geht es gut! Hast du dich schon jemals gefragt, wie ich mich fühle? Ganz bestimmt nicht, sonst wäre nämlich alles noch in Ordnung.“
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