„So schön ist meine Geschichte nicht.“ Jutta und atmet tief durch, bevor sie anfängt zu berichten. „Während meiner Ausbildung lernte ich Rüdiger kennen. Du weißt ja bestimmt noch, dass ich bei Jungs nicht die besten Chancen oder überhaupt viel Auswahl hatte, schon allein wegen meiner Größe. Also war ich eigentlich froh, als ich endlich einen Freund hatte, der nicht zu mir aufschauen musste. Was weiß man mit zwanzig Jahren schon von Liebe?“ Sie zuckt mit den Schultern. „Seine Eltern haben ein Autohaus mit Werkstatt. Sie bauten uns ein Haus, und tolle Autos waren natürlich auch kein Problem. Der Anfang wurde uns so ganz schön erleichtert. Du musst aber wissen, dass Rüdiger seinen Eltern nie widerspricht, weil er sein Erbe nicht gefährden will. Und ich habe es nicht anders gelernt. Meine Eltern haben mir immer eingetrichtert, dass man Erwachsenen Respekt entgegenbringen muss, egal ob sie ihn verdient haben oder nicht. Also haben Rüdigers Eltern meine Ideen und Wünsche von Anfang an im Keim ersticken und uns ungehindert vorschreiben können, wie wir unser Leben nach ihren Vorstellungen am besten leben. Leicht war das auf Dauer nicht. Ihre ständigen Einmischungen nannten sie großzügige Unterstützung. Noch vor der Hochzeit wurde ich schwanger und bekam Jenny. Die Schwiegereltern interessieren sich nicht sehr für sie, weil sie ein Mädchen ist. Das würde die spätere Firmenübernahme erschweren. Ein Junge macht sich da besser.“
Jutta macht eine Pause und sieht traurig vor sich hin. Sie erinnert sich wieder an die vorwurfsvollen Blicke in der Klinik und wie sich ihre Freude über Jennys Geburt schlagartig getrübt hatte.
„Der einzige Kommentar meines Schwiegervaters lautete: `Da müsst ihr aber bald einen Jungen nachlegen.´ Dabei lachte er blöd und sagte zu seiner Frau: `Du hast dich damals nicht so dämlich angestellt und mit unserem Rüdiger gleich ins Schwarze getroffen und für den notwendigen Erben gesorgt.´“
„Toll, als wenn du daran schuld bist“, wirft Lydia fassungslos ein. „Was sind das denn für Ansichten? Aber von solchen Leuten kann man wahrscheinlich nichts anderes erwarten. Da sind Hopfen und Malz verloren.“
Jutta ist den Tränen nahe und schnieft, sodass Lydia ihr ein Päckchen Taschentücher über den Tisch schiebt.
„Danke“, sagt sie, putzt sich die Nase und spricht weiter. „Rüdiger war nie mein Traummann. Ich hatte nicht erwartet, dass er mich auf Händen trägt und dachte, mit etwas gutem Willen wird schon alles gut. Aber er wollte nur, dass ich den Haushalt schmeiße und fleißig mit ihm daran arbeite, einen Erben zu bekommen. Das war mit der Zeit ziemlich eintönig. Deshalb habe ich in einem Steuerbüro einen Halbtagsjob angenommen. Ich musste zu Hause immer mal raus und wollte normale Menschen um mich haben.“ Jutta nimmt ihr Glas, trinkt einen Schluck Wein und sieht vor sich hin. Lydia spürt, dass es ihr schwerfällt, über alles zu sprechen. „Meine Eltern waren nie für mich da. Meine Mutter kennt Jenny eigentlich gar nicht, weil wir uns höchstens dreimal im Jahr besucht haben. Ich habe immer gehofft, dass sie sich freut, etwas Zeit mit ihrer einzigen Enkelin verbringen zu können, aber nicht meine Mutter. Die behauptet einfach, dass aus Jenny sowieso mal nichts werden kann. Bei Rüdigers Erbanlagen wäre das überhaupt kein Wunder – ganz der Vater eben. Du machst dir keine Vorstellungen, wie schlimm Familienfeiern bei uns waren. Rüdigers primitive Verwandtschaft und meine überheblichen Eltern. Die Schwiegereltern und ihre feine Sippschaft trinken alle gern. Mit dem Trinkspruch: `Lieber einen mehr, als einen zu wenig´, prosten die sich ständig zu und leeren alle Flaschen, die sie finden. Einmal hatte ich mit Absicht nur wenig hochprozentige Getränke auf den Tisch gestellt, da haben die die Feier einfach in den Keller verlegt und hatten sogar noch Spaß dabei. Die Gemütlichkeit wird nur daran gemessen, wie viel Alkohol durch die Kehlen fließt.“ Die Erinnerung lässt Jutta erschauern. Sie reibt sich die Arme, als würde sie frieren und schüttelt den Kopf, als wenn sie so die unangenehmen Gedanken schneller los wird. „Ich hoffe so sehr, dass Jenny sich hier gut einlebt und wir beide zur Ruhe kommen. Ich möchte mit ihr neu anfangen, ohne die störenden Einflüsse dieser Menschen. Und meine Mutter wird hoffentlich irgendwann froh sein, dass wir hier wohnen. Vielleicht kann sie auch bald wieder arbeiten und wird etwas von ihrer Trauer abgelenkt.“
„Das tut mir alles sehr leid, aber leider kann man sich seine Familie nach wie vor nicht aussuchen.“
Mehr kann Lydia dazu nicht sagen, denn sie ist eigentlich sprachlos.
Jutta stimmt ihr mit einem kräftigen Nicken zu und fragt: „Was hast du die ganze Zeit über gemacht? Wie geht es deiner Familie? Und wieso bist du nicht Lehrerin geworden? Das will ich jetzt aber ganz genau wissen.“
Lydia überlegt kurz bevor sie antwortet. „Meine Eltern erwarteten, dass ich einen anständigen Beruf erlerne und studiere – natürlich Pädagogik. Das sollte mir wohl dabei helfen, es mit meinen eigenen Kindern einmal leichter zu haben, als sie es mit mir hatten. Schnell habe ich aber gemerkt, dass viel theoretisches Wissen auf diesem Gebiet noch lange keine gute Lehrerin ausmacht. Mit anderen Worten – die Kinder gingen mir gehörig auf die Nerven.“
Jutta versteht Lydia voll und ganz. Sie kann nachvollziehen, dass es nicht jedem gegeben ist, Lehrer zu sein. Ihr selbst reichen schon die Elterngespräche und Vorhaltungen über das Fehlverhalten ihrer Tochter.
„Zum Glück habe ich die Kurve noch rechtzeitig bekommen und das Studium abgebrochen“, erzählt Lydia weiter, „und ende nicht wie unsere Geschichtslehrerin, die niemand ernst nahm und alle nur das grüne Ungeheuer nannten, obwohl die eigentlich einen richtigen Namen hat. Mein größter Albtraum war, eine unfähige Pädagogin zu werden.“
„An Fräulein Meyer kann ich mich noch gut erinnern. Ich hatte manchmal ganz schön Mitleid mit ihr. Und was machst du stattdessen beruflich?“
„Ich habe mir die Entscheidung nicht leicht gemacht und lange darüber nachgedacht, wo meine Interessen liegen. Es gibt doch nichts Schöneres, als dass man sein Hobby zum Beruf machen kann.“
„Da hast du Recht“, sagt Jutta.
„Ich musste mir doch für Olli immerzu Notlügen einfallen lassen, weil er zu spät zum Unterricht kam und selbst zu wenig Fantasie besaß. Mir fiel das leicht, denn ich war ganz gut im Erfinden von Ausreden, und es kamen mir die ausgefallensten Ideen.“
Jutta nickt und stimmt Lydia lächelnd zu.
„Das war wirklich unterhaltsam. Ich war jedes Mal so aufgeregt, wenn ich unpünktlich war, dass mir der wahre Grund kaum über die Lippen wollte.“
„Du hattest ja nichts zu lachen bei deinen Eltern. Es gibt wohl kaum etwas Schlimmeres für ein Kind, als dass gleich Mutter und Vater an der eigenen Schule Lehrer sind. Außerdem bist du doch nie zu spät gekommen, oder?“, fragt Lydia nachdenklich.
„Doch, einmal. Ich musste die halbe Nacht lernen, weil ich irgendetwas nicht wusste und schlief früh so fest, dass ich das Klingeln meines Weckers nicht gehört habe. Den Schreck, der in mich fuhr, als mir das Ausmaß des Verschlafens bewusst wurde, hatte ich ewig in den Gliedern.“
„Das klingt ja, als hättest du deswegen heute noch ein schlechtes Gewissen.“ Lydia lacht und erzählt weiter. „Olli nahm es mit der Pünktlichkeit nicht sehr genau, und ich musste mir ständig glaubhafte Notlügen für ihn ausdenken. Das war die Vorarbeit für meinen Beruf und ermöglicht mir heute, Romane zu schreiben. Und ich lebe ruhiger, denn ich muss mich nicht in die Erziehung von fremden Kindern einmischen.“
„Das ist ja toll. Würdest du mir mal einen ausleihen?“, fragt Jutta, die neugierig geworden ist.
„Na klar. Im Wohnzimmer stehen alle. Such dir einfach einen aus.“
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