„Ja. Zeit habe ich heute genug. Nachher fahre ich mit Jenny nur noch kurz zum Friedhof.“
Sybilles Geschrei auf der Terrasse ist deutlich zu hören.
„Zieh doch gleich hierher“, tobt sie. „Ihr könnt doch eine Kommune gründen, so gut wie ihr euch versteht. Der beliebte Herr Wagner und seine drei unentbehrlichen Frauen. Statt dich wie ein verantwortungsbewusster Familienvater aufzuführen, besäufst du dich und überlässt meine Kinder sich selbst.“
„Übertreibe nicht .....“, wirft Olli ein.
Weiter kommt er nicht.
„Ich fahre jetzt nach Hause. Wage es auf gar keinen Fall, in diesem Zustand bei uns aufzukreuzen“, schreit Sybille und geht in die Küche.
Ohne Christine oder Jutta anzusehen, sagt sie: „Ich hätte gern meine Kinder!“
Christine geht nach oben.
„Richard, Bertram, kommt. Die Mama möchte mit euch nach Hause fahren.“
„Ich will noch in der Räuberheule spielen“, sagt Bertram und springt übermütig in Daniels Bett.
„Das kannst du das nächste Mal. Richard, du musst doch nicht weinen. Ihr dürft bald wiederkommen.“
Christine wühlt sich durch die Kissen, um an Bertram ranzukommen und zieht ihn zu sich. Sie nimmt ihn auf den Arm und geht langsam die Treppe runter. Richard ist dicht hinter ihr.
„Beeilt euch! Ich halte es hier nicht länger aus. Habt ihr eure Sachen?“, fragt Sybille Richard unfreundlich.
Er nickt nur und putzt sich die Nase.
Unsanft nimmt Sybille ihre kleinen Söhne an die Hand und zieht sie, ohne sich zu verabschieden, hinter sich her.
Christine nimmt die Kaffeekanne und Jutta drei Tassen. Sie gehen zu Olli.
„Es tut mir so leid, dass ihr das Theater mitbekommen habt. Das wollte ich nicht. Ich weiß gar nicht, wieso ich noch hier bin“, jammert Olli. „Oh, mein Kopf. Ich glaube, ich habe eine Dauerkarte fürs Karussell gekauft. Mir ist so schwindlig.“
„Trink erst mal einen starken Kaffee, dann kannst du duschen und die Welt sieht sogar für dich wieder freundlicher aus“, sagt Christine.
„Wie hat sie das mit der Kommune gemeint?“, fragt Jutta.
„Sybille ist bloß eifersüchtig auf uns“, antwortet Christine und winkt ab.
„Warum bin ich denn gestern Abend nicht mehr nach Hause gefahren?“, fragt Olli fassungslos. „Das musste ja so enden.“
„Du konntest nicht mal mehr stehen. Sei froh, dass du nicht noch Ärger mit Herrn Schmidt bekommen hast“, sagt Christine.
„Wieso? Was hat der damit zu tun? Den kenne ich doch gar nicht“, stellt Olli fest.
„Du hattest so ein nettes Trinklied drauf und wolltest zu Schmidt seiner Frau. Wir haben dich aber gebremst.“
„Danke“, kann Olli nur sagen. „Ich fahre in die Agentur und lege mich dort noch etwas hin. Am Abend werde ich sehen, ob sich zu Hause die Wogen geglättet haben. Eher werde ich mit Sybille gar nicht reden können. Danke Christine, dass du dich um die Jungs gekümmert hast.“
„Das habe ich doch gern getan.“
„Dann bleibt uns nur, dir viel Glück zu wünschen. Wir sehen uns morgen im Büro“, sagt Jutta.
Als Olli weg ist, ergänzt sie: „Mit ihm möchte ich nicht tauschen. Vielleicht wäre es besser, man bindet sich nie, dann bleibt einem sicher viel erspart. Oder kennst du jemanden, der glücklich verheiratet ist?“
Beide trinken nachdenklich ihren Kaffee.
Tilly und Jenny kommen unterdessen angeradelt.
„Hallo, Mama. Guten Morgen“, begrüßt Jenny ihre Mutter und gibt ihr sogar einen Kuss.
„Darf Jenny morgen wieder mitkommen?“, fragt Tilly. „Montags ist Reitunterricht für Anfänger. Es sind noch Plätze frei.“
„Darüber müssen wir noch sprechen. Jenny sagt dir Bescheid. Wir wollen jetzt fahren“, antwortet Jutta.
„Bist du mit dem neuen Auto hier?“, fragt Jenny.
Jutta nickt.
„Da komme ich gleich mit raus und sehe mir das an“, sagt Christine.
„Tschüss, Tilly und danke“, verabschiedet sich Jenny.
„Ja, tschüss. Bis morgen.“
Auf der Rückfahrt sagt Jutta: „Wir fahren schnell noch zum Friedhof. Heute früh hat Oma schon angerufen. Ich wollte sie zum Kaffee einladen, sie hat jedoch keine Zeit. Wir machen es uns eben allein gemütlich.“
„Ich gehe nachher kurz zu Stella, danach habe ich Zeit für dich.“
„Dein kurz kenne ich“, sagt Jutta lächelnd. „Fühlst du dich etwa wohl hier?“
„Es ist ganz okay. Eine Kleinstadt hat auch Vorteile. Zu Hause war ich von Nicole abhängig. Hier sind alle wie ..... wie eine große Familie, und auf dem Reiterhof ist es wirklich super schön. Bitte, Mama. Darf ich Reitunterricht nehmen? Ich bezahle auch alles von meinem Taschengeld“, sagt Jenny hoffnungsvoll.
„Mit wie viel Taschengeld rechnest du denn? Weißt du eigentlich was Reitstunden kosten? Und dann noch die ganze Ausrüstung. Das ist kein Hobby für arme Leute.“
„Sind wir jetzt etwa arm?“, fragt Jenny entsetzt.
„Nicht gerade arm, aber auf großem Fuß können wir vorerst nicht leben.“
„Oma Hedwig ist so lieb. Wo bekommt man nur sooo eine Oma her?“, fragt Jenny.
„Ich glaube, das ist ein Auslaufmodell. Sie war früher auch bei uns allen beliebt. Von ihr hat niemand je ein böses oder strenges Wort gehört. Ich habe mich oft gefragt, wo sie die Geduld und Liebe hernimmt“, antwortet Jutta. „Aber jetzt gehen wir zu Opas Grab, bringen die Blumen hin und dann ab nach Hause. Morgen geht der Ernst wieder los. Lass uns heute noch ein bisschen die Ruhe genießen.“
Beide gehen nebeneinander die langen Reihen entlang. Plötzlich packt Jenny Jutta unsanft am Arm und zwingt sie, stehenzubleiben.
„Was hast du denn?“, fragt Jutta.
„Sieh doch. Dort auf der Bank sitzt Oma. Sie unterhält sich mit einem älteren Mann.“
„Du hast Recht. Es ist vielleicht besser, wenn wir sie nicht stören. Das wäre ihr bestimmt peinlich. Wir können auch hintenherum gehen. Sicher tut es ihr gut, mal mit einem anderen Menschen zu reden.“
Als sie am Grab angekommen sind, stellen sie die mitgebrachten Blumen neben den Grabstein.
„Ich kann mich kaum an Opa erinnern. So selten, wie ich ihn gesehen habe. Wie war er eigentlich?“, fragt Jenny.
„Ein Lehrer eben“, sagt Jutta, der auf Anhieb nichts anderes einfällt. „Ich hatte in den letzten Jahren auch nicht viel Kontakt zu ihm. Ich glaube, meine Eltern waren froh, als ich ausgezogen war, sie keine Verantwortung mehr hatten und endlich allein sein konnten. Sonst hätten sie uns öfter mal eingeladen oder wären einfach zu uns gekommen.“
Beide hängen noch eine Weile ihren Gedanken nach, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machen.
„Was gibt es zu essen? Ich habe ziemlich großen Hunger“, sagt Jenny. „Gibt es etwas Schnelles? Ich will doch dann zu Stella. Die wird staunen, wenn ich ihr vom Reiterhof erzähle. Vielleicht hat sie auch Lust mitzukommen.“
„Dann befolgen wir einfach Tillys Rat: `Alles in einen Topf, gut umgerührt, fertig´. Das Gericht probieren wir jetzt aus“, schlägt Jutta vor.
Am nächsten Morgen fährt Jutta bereits eine halbe Stunde eher als nötig ins Büro. Ihre Hoffnung, Markus nicht zu treffen, erfüllt sich nur teilweise. Zumindest sitzt sie sehr beschäftigt an ihrem Schreibtisch, als er klopft und gleich hereinkommt.
„Guten Morgen“, strahlt er sie an.
Jutta sieht hoch und wird mit einem Blitzschlag der Gefühle bestraft.
„Ihnen auch einen guten Morgen“, antwortet sie schnell und konzentriert sich wieder auf die Unterlagen.
„Hatten Sie ein schönes Wochenende?“, fragt Markus.
„Ja“, antwortet sie und denkt: „Hoffentlich geht er wieder, bevor meine Stimme versagt.“
Olli drängt sich an Markus vorbei, um Jutta zu begrüßen.
„Toll, dass du schon da bist. Man könnte fast denken, du kannst es gar nicht erwarten, hier die Akten zu durchwühlen.“
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