„Na und?“, sagte Josi lapidar.
„Nix na und .. ! Das heißt schließlich auch, dass die Betroffenen überhaupt kein Recht auf richterliche Überprüfung haben, da Geheimdienste ihre Praxis nicht offen legen müssen“, sagte Ronny. „Da scheinen sich doch Ost wie West irgendwie zu gleichen. Keiner traut seinen Bürgern. Ich möchte nicht wissen, was der Verfassungsschutz alles über mich in seinen Akten widerrechtlich und obendrein wahrscheinlich noch grundfalsch festgehalten hat. Schließlich paktiere ich ja als Steuerberater mit bösen subversiven Kräften wie ehemaligen Hippiekommunen, grünen Dorfläden und rosa-roten Buchhandlungen.“
*
Das andere, zweite DDR-Ereignis schneite in Person von Tamara wie ein Wirbelsturm herein. Ich hatte sie erwartet und ihr gerade die Tür geöffnet. Ihre langen dunklen Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug DDR-Jeans und einen hellblauen Rolli, der ihre blauen Augen betonte. Die Begrüßungszeremonie war herzlich und nahm die Form zwischen Freunden an, die das Wiedersehen wirklich tief zu schätzen wussten. Freunde, denen klar war, dass sie sich niemals oft sehen würden, wenn es dann aber so weit war, dann so intensiv, als wäre es das letzte Mal.
„Wie lange kannst du bleiben?“, fragte ich.
„Das DGB-Symposium geht über drei Tage.“
„Wirst du auch Zeit haben, dir mal mit mir Frankfurt anzuschauen?“
„Aber sicher. Meine FDGB-Delegation hat zwar eine Einladung vom Landesvorstand der IG Metall zu einer gemeinsamen Rundtour durch den Rhein-Main-Bezirk, aber ...“
„Hier heißt es Rhein-Main-Region“, musste ich unnötigerweise richtigstellen, um mich sogleich für diese Richtigstellung zu entschuldigen. „Ach was“, fügte ich schnell hinzu, „es ist völlig egal, ob Bezirk oder Region. Der Begriff Bezirk kam mir eben nur etwas fremd vor. Aber es ist echt total blöd von mir …“
„Alles gut“, beschwichtigte mich Tamara. „Bei uns heißt halt alles Bezirk.“
Wir mussten über diese ausgesprochene Unwichtigkeit herzlich lachen. Dann erzählten wir uns über unsere Kinder, über unsere Arbeit, über die Zukunft, über unsere Erwartungen.
„Wie geht es eurem Jungen?“, fragte Emma.
„Mike ist jetzt zwanzig Monate, und er ist diesen Mai in die Kinderkrippe gekommen. Das erste Halbjahr war ich bei ihm zu Hause. Das zweite Halbjahr blieb Vitali bei unserem Kleinen.“
„So etwas wie die Kinderkrippe kennen wir hier eigentlich nicht. Bist du mit dieser Art Kinderbetreuung zufrieden? Fühlt Mike sich wohl? Ich denke, vielleicht ist so eine Krippe zu früh für ein Kleinkind.“ Emma sah erwartungsvoll zu Tamara.
„Für uns berufstätige Eltern und hauptsächlich für uns Frauen löst die Krippe ein dickes Problem. Wir wollen gleichberechtigt mit den Männern unser Geld verdienen und die Kleinen sollen zugleich geborgen und integriert in einer gleichaltrigen Gemeinschaft aufwachsen. Und das leistet die Betreuungseinrichtung sehr gut.“
„Aber liegt der Ursprung nicht ganz woanders? Ist es nicht so, dass es einerseits für die Staatswirtschaft und andererseits für die finanzielle Situation der Familien wichtig ist, dass ihr Frauen in der DDR arbeitet?“
„Na mal ehrlich: Wärt ihr Frauen hier nicht auch froh, wenn ihr unbeschwert arbeiten gehen könntet? Natürlich nur, sofern man will oder sofern es die Haushaltskasse nötig hat. Nur habt ihr ja hier im Westen gar keine Wahl, weil es keine Kinderkrippen gibt.“
„Man muss es hier privat organisieren, was zugegebenermaßen sehr schwierig ist“, sagte Emma.
Tammi wiegte zustimmend ihren Kopf. „Deshalb wurden bei uns die Betreuungseinrichtungen für Kleinkinder früh und umfassend schon in den Anfangszeiten der DDR ausgebaut. Im letzten Jahr betrug die Versorgung von Krippenkindern im Durchschnitt 80 Prozent, in den Großstädten lag sie bei fast 100 Prozent. Kindergartenplätze waren für 94 Prozent und Hortplätze für 81 Prozent der Kinder vorhanden.“
„Davon können wir nur träumen. Ich habe vor einiger Zeit einen Artikel im stern gelesen und mir die bundesdeutschen Zahlen für unsere Saunarunde rausgeschrieben. Eine Katastrophe“, sagte ich. „Demzufolge gibt es bei uns gerade mal für zwei Prozent der Kinder einen privaten Krippenplatz, für immerhin 78 Prozent einen Kindergartenplatz und für nur vier Prozent der Schulkinder einen Hortplatz.“
Wir unterhielten uns dann über die Kosten und die Öffnungszeiten in beiden Staaten. In der DDR wurde die Finanzierung beispielsweise vom Staat übernommen. Die Betreuung war dadurch für die Eltern kostenfrei. Lediglich für die Verpflegung mussten sie zahlen. Tamara berichtete, dass ein Mittagessen für ein Krippenkind 1,40 DDR-Mark kostete, das für ein Kindergartenkind 35 Pfennige. In der BRD mussten die Eltern für beide Leistungen tiefer in die Tasche greifen. Zwischen 80 und 160 DM kostete im Monat die Betreuung des Nachwuchses und zwischen drei und vier DM ein Mittagessen für die Zöglinge.
„Bei uns sind außerdem alle Einrichtungen für die Kinderbetreuung zwischen 6:00 Uhr und 19:00 Uhr geöffnet, also sehr lange!“, erzählte Tamara weiter von den Verhältnissen in der Deutschen demokratischen Republik.
Emma war erstaunt und hielt westliche Bedingungen dagegen. „Hier schließen die Kindergärten meist mittags, einige wenige manchmal auch nachmittags – das soll sich in nächster Zeit aber zum Besseren ändern. Öffnungszeiten bis zum Abend sind hier allerdings unvorstellbar.“
„Sag‘ mal, Tammi, bist du jetzt so ‘ne waschechte Funktionärin mit all den Privilegien, die man als staatstragende Person genießt?“ Ich war gespannt, wie sie auf meine provokante Frage antworten würde.
„Staatstragend sind alle Bürger in der DDR“, entgegnete sie, „aber leider dürfen nicht alle reisen wie ich. Das ist schon ein großer Mist!“
„Ich bin froh, dass wir offen reden können, und so kenne ich dich ja auch – dass du offen deine Meinung sagst. Glaubst du also, dass es besser wäre, die Grenze wäre durchlässiger? Wären dann die DDR-Bürger zufriedener?“
Emma hatte eine Platte aufgelegt. Wir tranken einen Weißwein zum Abendbrot und im Hintergrund sang Peter Maffay »Über sieben Brücken musst du gehn«.
Manchmal geh ich meine Straße ohne Blick,manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück.Manchmal bin ich ohne Rast und Ruh,manchmal schließ ich alle Türen nach mir zu.
„Das ist doch der Maffay, nicht unsere Karat- Band!“, rief Tamara mit unterschwelliger Empörung.
Emma lächelte und sagte: „Der Maffay kupfert gerne ab. Immerhin aber nur die besten Songs.“
„Reg‘ dich nicht auf“, wendete ich mich schmunzelnd an Tammi. „Wir wissen ja, dass der Superhit in der DDR und nicht im Westen das Licht der Welt erblickte. Aber er hat halt alle Grenzen überwunden. Zeugt doch vom Weltniveau sozialistischer Musikproduktion!“
„Mach‘ dich nur lustig!“ Tamara nahm es heiter, stupste mich an und grinste. Dann erzählte sie uns, wie der Song von Herbert Dreilich, dem Sänger der DDR-Rockgruppe Karat, innerhalb von nur zwei Stunden in einem mickrigen Übertragungswagen aufgenommen worden war. Vorher hatte er zwei Wochen lang über dem Text gebrütet, aber keine Melodie wollte ihm einfallen. Und dann, am Morgen im Übertragungswagen, ging es wie durch eine höhere Eingebung ruckzuck. Dass der Song später zu einem Welthit werden sollte, hatte 1978 noch keiner geahnt.
„Als der Song ein Jahr später im Abspann des gleichnamigen Films verklang, klingelten im Fernsehstudio der DDR schon die Telefone Sturm“, sagte Tamara.
„Arbeitet dein Vater immer noch bei der DEFA in Babelsberg?“
„Ich glaube, da bleibt er noch bis zum Umfallen. Filmen, Kameraführung, das ist sein Ein und Alles. Jedenfalls hat er erzählt, dass nach der Erstaufführung des Films eine Anfragewelle über sie hereinbrach. Ob Ost- oder Westbürger, jeder wollte wissen, wo man den Titel kaufen könne.“
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