Zum einen ging es um die einfache akustische Kleinkind-Überwachung mittels eines völlig neuen Gerätes, das sich Babyphon nannte. Es war gerade erst vor einem halben Jahr auf den Markt gekommen.
Wir hatten also eines der ersten analog funkenden Babyphone, allerdings mit nur acht möglichen Kanälen, was bedeutete, dass die krächzenden Signale des Mixers, des Radios oder des Fernsehers der Nachbarn häufig mit empfangen wurden.
Die Tonqualität unserer modernen hausinternen Abhör-Errungenschaft war also nicht besonders berauschend, dafür rauschte das Gerät umso mehr. Unser Babyphon war unidirektional, das heißt, das Gerät am Bett der Kinder sendete, und das Teil, das wir jetzt bei uns im Esszimmer aufstellten, empfing die Geräusche aus dem Kinderzimmer. Manchmal waren es nur Pupser.
Zum andern – und dies war die bedrückendere Dimension – ging es an jenem Abend um die schon historischen Abhöraffären in unserer jungen bundesdeutschen Vergangenheit und um die altbekannten Überwachungsgesetze. Als ich an unserem Esstisch Platz nahm – Emma hatte uns ihren selbst gemachten Kartoffelsalat und von der mit Lollo befreundeten Rindswurst-Unternehmerin jeweils ein Paar Gref Völsings hingestellt – lag Ronny gerade mit seiner sächsischen Josi über Kreuz. Sie hatte behauptet, anders als in der DDR, sei es im freien Teil Deutschlands unmöglich, dass staatliche Stellen das grundgesetzlich garantierte Briefgeheimnis über Bord werfen könnten. Sie bestritt, dass auch hier Bürger abgehört oder ihre Post mitgelesen werden könnte. Das sei verboten. Das habe sie im Grundgesetz nachgelesen.
„Man hat aber das Grundgesetz abgeändert“, wandte Ronny ein. „Es stimmt so nicht mehr, wie du es gelesen hast.“
Josi spießte ein Paar Rindswürste auf und legte sie sich auf ihren Teller. Ich reichte ihr die Schüssel mit Kartoffelsalat und das Glas mit Senf.
„Das ist ja der leckere Bautz’ner Senf!“, rief sie begeistert aus. Dann mit Entrüstung in der Stimme: „Wie kommt denn der hierher?“
„Ich nehme an, dass die aufgeflogenen und in Bautzen einsitzenden Fluchthelfer einen unterirdischen Warenverkehr zum Florieren gebracht haben. Devisenbeschaffung für ihre Befreiung“, sagte ich lachend. Doch ich merkte gleich, dass Josi auf solche Scherze nicht gut zu sprechen war.
Im Übrigen ahnte ich damals mit keinem Jota, dass in jenen Tagen ein Oberst der Staatssicherheit mit Namen Schalck-Golodkowski fast genau solch einen »unterirdischen Warenverkehr« zwecks Devisenbeschaffung betrieb.
„Eigentlich sollte man Sachen aus dem Osten boykottieren“, sagte sie mit trotziger Entschiedenheit in der Stimme.
„Das schadet doch nur denen, die es nicht wie du in den Westen geschafft haben“, meinte Emma. „Wenn der DDR die Devisen fehlen, fehlen drüben die Dinge, die man nur gegen Devisen auf dem freien Weltmarkt einkaufen kann, zum Beispiel Bananen und Orangen.“
Josi ging nicht darauf ein. „Die meisten sind doch Systemläuse, die dort bleiben wollen. Die profitieren doch vom System als Bonzen und Bürokraten.“
„Na, dann hat doch das dortige System offensichtlich für ein paar Wenige auch Vorzüge“, sagte ich und ahnte zugleich, dass meine süffisant gemeinte Anmerkung völlig ins Leere lief.
„Aber noch einmal zurück zu deiner Bemerkung wegen des Brief- und Postgeheimnisses, das im Grundgesetz garantiert wird“, sagte Ronny. „Es wurde bereits am 30. Mai 1968 faktisch abgeschafft.“
Und ich ergänzte: „Auch in der DDR-Verfassung steht übrigens bis heute, dass das Post- und Fernmeldegeheimnis strikt gewahrt und unverletzlich sei.“
„Ein schöner Verfassungstext und eine ungeschönte Verfassungswirklichkeit stimmen nicht immer überein.“ Ronny sah zu seiner Liebsten und schenkte ihr einen Apfelwein ein.
„Na siehste! Man weiß doch, wie dreist Mielkes »Horch- und Guck« die Bevölkerung ausspioniert.“ Dafür, dass sich Josi eigentlich vom Bautz’ner Senf aus Boykottgründen fernhalten wollte, strich sie ihn ziemlich dick auf ihre Rindswurst.
„Genauso dreist gehen aber auch die Dienste in der BRD vor. Man hat mit einem einzigen Gesetz das Grundgesetz gründlich ausgehebelt“, beharrte Ronny auf seinem Wissen, dass er uns dann zu unserem politischen Abendmahl lang und breit auftischte.
Wie also sah das Gesetz im Einzelnen aus? Das wollte ich mir gerne noch einmal von Ronny in Erinnerung rufen lassen. Damals, als wir gegen die Notstandsgesetze und das G 10-Gesetz demonstrierten, hatte ich mich zwar damit befasst – aber das war nun siebzehn Jahre her.
Das Gesetz zur Beschränkung des Brief-, Post und Fernmeldegeheimnisses, Gesetz zu Artikel 10 Grundgesetz, wie es offiziell hieß, bestand aus drei Teilen. Der erste Teil, Artikel 1, umfasste den politischen Kern des Gesetzes und regelte die Einschränkung des Post- und Fernmeldegeheimnisses zu nachrichtendienstlichen Zwecken. Unterschieden wurden Einzelüberwachungen und Allgemeinüberwachungen, ohne allerdings diese Begriffe im Gesetzestext selbst zu verwenden. Der zweite Teil, Artikel 2, regelte die Fernmeldeüberwachung im Strafverfahren. Eine Regelung der Postüberwachung war bereits im geltenden Strafprozessrecht vorhanden. Der dritte Teil, Artikel 3, enthielt den vom Grundgesetz geforderten Hinweis, dass dieses Gesetz das Grundrecht nach Artikel 10 Grundgesetz einschränkte.
„Hallo!“, rief Josi über den Tisch, „bei euch wurde also erst sehr spät, ab Ende der Sechziger Jahre, abgehört!“
„Erstens stimmt das nicht“, antwortete ihr Freund, „und zweitens wäre das keine Entschuldigung dafür, dass immerhin eines der wichtigsten Grundrechte außer Kraft gesetzt wurde.“
Mir fiel jetzt wieder ein, wie man die Westdeutschen geschickter Weise schon lange vor der Verabschiedung des G 10-Gesetzes inoffiziell bespitzelt hatte.
„Josi, es ist so“, sagte ich, „dass schon gleich nach der Gründung der Bundesrepublik die Siegermächte USA, Frankreich und Großbritannien den von ihnen aufgebauten westdeutschen Sicherheitsbehörden erlaubten, unter ihren alliierten Fittichen und unter ihrer technischen, logistischen und personellen Mithilfe zu schnüffeln.“
„Gewiss nur in Ausnahmefällen!“, warf Josi ein. „Ausnahmen, wenn Gefahr im Verzug war! Du redest eure Demokratie schlecht!“
„ Unsere Demokratie!“, sagte ich und betonte das Pronomen. „Du gehörst ja jetzt dazu! Du gehörst zum Westen, oder?“
Dann ging ich zum Bücherregal und kramte eine Zeitschrift hervor, die die Bundeszentrale für Politische Bildung herausgab, Das Parlament . Ich blätterte sie auf und suchte nach einer bestimmten Zahlenangabe, die ich vor kurzem wahrgenommen hatte.
„Um Gefahren, die zwar nicht vorhanden, aber möglich waren, rechtzeitig zu erkennen oder auszuschließen, war nach Auffassung der westdeutschen Geheimdienste eine allgemeine Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs etwa mit Osteuropa, teilweise auch mit Westeuropa und natürlich gerade auch innerhalb der Bundesrepublik notwendig“, erklärte ich und strich nun meinerseits eine gehörige Portion Bautz’ner Senf auf die Rindswurst – und dachte dabei still und leise: Alles für die Devisen der DDR.
„Hm, und was sagt uns das?“, fragte Josi.
„Dass es sich hierbei nicht nur um Maßnahmen in einer spezifischen Gefahren- oder Ausnahmesituation handelt, sondern um das tagtägliche Routinegeschäft der Nachrichtendienste, das sagt uns das! Das machen allein schon die Zahlen deutlich, die der Präsident des Bundesnachrichtendienstes in einer Besprechung mit Vertretern der Bundestagsfraktionen im Bundeskanzleramt nannte.“
Ich hatte die Stelle mit den Zahlen gefunden und las vor: „Allein bei den Amerikanern fielen aufgrund der täglich durchgeführten allgemeinen Überwachung ca. 26.000 Kontrollfälle und etwa 12.000 Auswertungsfälle pro Monat an.“
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