Ich durchforste mein Gedächtnis, schüttle dann aber mit dem Kopf. „Nein. Ich habe hauptsächlich Bücher über weiße Magie und nur ein paar dunkle Grimoires. Von einer Ghula habe ich noch nie gehört.“
Er nickt, seufzt und wirft den Buchdeckel zu, sodass der jahrhundertealte Staub aus den Seiten fliegt. „Das Schlimme ist, ich weiß nicht, wie ich eine Ghula töten kann. Mein Vater hat es damals auch nicht geschafft. Sie hat alle umgebracht, an denen sie Rache üben sollte. Dann hat sie ihren Schöpfer getötet und ist verschwunden.“
Ich setze mich neben ihn aufs Bett und denke nach. Ist das der Grund, warum die Ghula Naomi und mich nicht getötet hat? Kann sie nur die töten, an denen sie Rache üben soll? „Sehr clever von Daphnes Mann Arthur, der dunklen Hexe!“, erkenne ich plötzlich. „Er hat dafür gesorgt, dass die Ghula erst befreit wird, wenn er schon längst tot ist! Somit kann sie ihn nicht mehr töten.“
„Ich finde das nicht clever, sondern feige“, bemerkt er bissig.
Er hat natürlich recht, aber irgendwas in der Art wie er es sagt, stört mich und ich fühle mich seltsamerweise persönlich angegriffen. Vielleicht weil ich selbst zur Hälfte dunkel bin, obwohl das nicht bedeutet, dass ich jemals eine Ghula erschaffen würde!
Wir sitzen noch eine Weile da und besprechen das weitere Vorgehen. Doch da wir weder wissen, wo die Ghula gerade ist, noch wie wir sie töten können, oder an wem sie sich eigentlich rächen soll, beschließen wir für heute Feierabend zu machen.
Chris geht nach draußen und kontrolliert den umliegenden Wald nach unerwünschten Besuchern. Sie können das Haus aufgrund meines Schutzzaubers zwar nicht mehr sehen und erreichen, aber wir wollen trotzdem immer noch wissen, was sie überhaupt von uns wollen und wer sie sind.
Ich gehe währenddessen unter die Dusche und wasche den ereignisreichen Tag von meinen Schultern. Danach lege ich mich nur mit Bademantel bekleidet ins Bett und will eigentlich noch auf Chris warten, doch nach wenigen Minuten fallen mir bereits die Augen zu.
Am nächsten Morgen wache ich ziemlich früh auf. Chris liegt neben mir, ein Bein über meines gelegt, die Hand in meinen Haaren verwickelt. Leise und langsam löse ich mich von ihm und schleiche aus dem Zimmer. Ich bin froh, mal wieder eine ganze Nacht ohne Störungen durchgeschlafen zu haben. Seitdem ich als Parapsychologin tätig bin, sind störungsfreie Nächte zur Seltenheit geworden. Anscheinend agiert alles Magische und Paranormale mit Vorliebe nachts!
Ich mache mir meinen geliebten Vanilla Latte und gehe vor die Tür. Es ist noch dunkel draußen und riecht nach feuchtem Gras und Regen. Ich schließe die Augen, wärme meine Hände an der Tasse und konzentriere mich auf die Umgebung. Der Schleier meines Schutzzaubers ist noch stabil, dahinter befindet sich alles in trägem Schlaf. Bis auf ein paar nachtaktive Waldbewohner, die noch auf Futtersuche sind, ist alles ruhig, still und friedlich. Keine Anzeichen einer Ghula oder irgendwelcher Eindringlinge. Wie es scheint, habe nicht nur ich eine erholsame Nacht hinter mir, sondern auch die Elemente und die Geistwesen. Sie schlagen keinen Alarm und wirken nicht beunruhigt.
Nachdem ich meinen Kaffee draußen getrunken habe und meine Beine schon taub vor Kälte sind, gehe ich wieder zurück ins Haus. Auf dem Weg in die Küche fällt mein Blick auf die Kiste, in der die Ghula wer weiß wie lange eingesperrt gewesen ist. Ich stelle meine Tasse ab und fahre mit den Fingern über den eingeschnitzten Spruch im dunklen Holz, als mir plötzlich eine Idee kommt. Vielleicht kann ich die Ghula mithilfe dieser Kiste orten! Normalerweise brauche ich persönliche Gegenstände von Vermissten, um einen Ortungszauber durchzuführen, aber es könnte trotzdem funktionieren. Die Kiste war immerhin längere Zeit ihr Zuhause und ist somit wohl das Persönlichste, was so ein halbdämonisches Wesen besitzen kann.
Mit schnellen Schritten gehe ich ins Arbeitszimmer und krame aus der Schublade am Schreibtisch eines meiner Pendel, sowie eine Karte des Ortes heraus. Dann gehe ich zurück zur Kiste, knie mich neben den Kamin auf den Boden und breite die Straßenkarte vor mir aus. Ich lege die linke Hand auf das Holz und umfasse mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand das Ende des Pendels. Die goldene Kette baumelt wild umher und ich warte, bis der spitze Onyx am anderen Ende ausgeschwungen hat. Sobald das Pendel eine vertikale Linie bildet, beginne ich mit dem Zauber. Ich schließe die Augen und durchbreche die Mauer in meinem Inneren, die mich instinktiv vor den Erinnerungen an die Ghula beschützen will, bis ich sie wieder bildlich vor meinem inneren Auge sehe. Die Hand auf der Kiste kribbelt kalt und ich spüre einen Zug am Pendel.
Es funktioniert!
Ich öffne die Augen, halte das Pendel tiefer über die Karte und lasse mich von seinen Schwingungen leiten, während ich zusehe, wie es mir bekannte Gebiete im Ort überfliegt. Es zieht mich über den Wald und die Landstraße, weiter in Richtung Innenstadt, bis zum westlichen Rand davon, Richtung Fluss. Am Krankenhaus vorbei, bis zur Brücke. Dann wird das Pendel ruckartig aus meinen Fingern gerissen und landet mit einem dumpfen Schlag auf der Karte: Die Spitze des Onyx zeigt direkt auf die Stelle, an der die Brücke mit dem Wehr markiert ist.
„Chris!“, rufe ich bereits, bevor ich mich hochgerappelt habe. „Chris! Ich weiß jetzt, wo die Ghula ist!“
Von oben dringt ein Poltern, dann ein Ächzen. „Was?“
Ich renne die Stufen hoch, stürme ins Schlafzimmer und pralle fast mit Chris zusammen, der neben dem Bett steht. „Ich weiß jetzt, wo die Ghula ist! Sie ist auf der Brücke, bei dem Wehr, in der Nähe des Krankenhauses. Ich habe sie gependelt, mit der Kiste. Wieso bin ich nicht gestern schon auf die Idee gekommen?“, hasple ich, während ich mich an ihm vorbeidränge und im Kleiderschrank nach frischen Klamotten wühle.
Chris braucht nur einen kurzen Moment, um die Dringlichkeit in meiner Stimme zu erkennen. Dann schlüpft er in seine Jeans und reißt ein Shirt vom Kleiderbügel, das er sich in Windeseile über den Kopf zieht.
„Und du bist sicher, dass es die Ghula ist?“, fragt er auf dem Weg ins Bad. „Die Kiste gehörte doch der Hexe, diesem Arthur.“
Mit dem halben Bein in meiner Jeans humple ich hinter ihm her und ziehe sie währenddessen hoch. „Ja, aber der ist tot. Ihn kann ich nicht pendeln.“
„Und wasch isch mit Daphne?“, nuschelt Chris mit der Zahnbürste im Mund und zuckt mit den Schultern.
Ich halte beim Schließen meines BHs inne und denke nach. „Ich… Ich weiß nicht“, gebe ich zu und überlege, ob mich das Pendel vielleicht doch zu der alten Dame und nicht zur Ghula geführt hat. Die Kiste könnte auch Daphnes persönliches Eigentum gewesen sein.
Aber was solls. „Egal. Wenn es Daphne ist, dann kann sie uns vielleicht sagen, auf wen die Ghula es abgesehen hat.“
Chris nickt und spuckt im Waschbecken aus. „Wenn sie das überhaupt will.“
Ich lasse seine Bemerkung unbeantwortet und putze mir selbst rasch die Zähne, während Chris sich ein grün-blau gemustertes Flanellhemd überzieht und dann in seine braunen Lederstiefel schlüpft.
Er geht schonmal nach unten, während ich mir ein Kapuzensweatshirt überziehe und mir meine Bergkristalle in die Hosentasche stecke. Ich überblicke mein kleines Waffenarsenal auf der Kommode neben meinem Nachtschrank, doch da ich nicht weiß, wie ich es mit einer Ghula aufnehmen kann, lasse ich alles an seinem Platz liegen und haste nach unten zu Chris.
Die Sonne schiebt sich gerade schläfrig über den Horizont, als wir über die Landstraße Richtung Innenstadt brettern. Wir sind viel zu schnell unterwegs, aber das ist uns egal. Lieber nehmen wir einen Strafzettel in Kauf, als den Tod eines Menschen durch einen auf Rache programmierten Halbdämon.
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