Ich begegne ihrem Blick, kann ihr strahlendes Lächeln aber nicht erwidern. „Wofür würde die Libelle stehen?“
Ihre Lippen formen sich zu einer schmalen Linie. „Am ehesten für Leichtigkeit und Akrobatik. Aber auch für die Verbindung zwischen dieser Welt und der Anderswelt, für spirituellen Kontakt.“
Wir sehen einander nachdenklich an, dann beginnt sie wieder zu lächeln. „Vielleicht ist das ein gutes Omen für unseren Termin bei der alten Dame! Immerhin war ihr Mann eine Hexe, und du bist schließlich auch zum Teil eine.“
Mir ist bewusst, dass ihre Fröhlichkeit nur aufgesetzt ist. Irgendwas versucht sie zu überspielen. Ich sehe zu, wie sie den Rest ihres Tees mit zwei großen Schlucken hinunterkippt und dann aufsteht.
„Wollen wir dann los?“, fragt sie und zieht den Reißverschluss ihres Sweatshirts nach oben.
Ich erhebe mich und nehme meine Jacke von der Stuhllehne. „Natürlich, lass uns gehen.“
„Ach Herrje, da seid ihr ja endlich. Kommt doch rein, kommt doch rein“, sagt das zierliche Persönchen mit den grauweißen Haaren und zieht die schwere Eichenholztür offen. „Ich konnte es kaum erwarten, dass ihr endlich hier seid.“
Naomi geht an der kleinen Frau vorbei ins Innere des Hauses. Ich folge ihr und schenke der Dame ein Lächeln.
„Sie sind bestimmt die Hexe“, sagt sie, hebt einen krummen, dürren Zeigefinger und zwinkert mir zu. „Sie sehen schon aus wie eine Hexe.“
Dasselbe könnte ich zu ihr sagen, verkneife es mir aber, da sie mich bestimmt nicht beleidigen wollte. Stattdessen nicke ich nur freundlich.
Muffiger Geruch liegt in der viel zu trockenen Heizungsluft. Wir legen unsere Jacken ab und hängen sie an die Garderobe, während die Dame des Hauses ihre dunkelgrüne Strick-Stola enger um ihren knorrigen Körper wickelt. Sie ist alt, ziemlich alt. Dazu sehr klein und sehr dünn. Sie trägt eine graue Bundfaltenhose, dazu selbstgestrickte Wollsocken und Lammfellpantoffeln. Oben herum ist sie in mehreren Lagen aus geblümter Seidenbluse, gehäkelter Weste und eben erwähnter Strick-Stola gewickelt, die von ihrem Eigengewicht immer länger und länger zu werden scheint.
„Sind Sie auch eine dunkle Hexe? Mein Mann war eine dunkle Hexe, aber das hat Naomi Ihnen bestimmt schon erzählt.“ Sie geht an uns vorbei und winkt mit der knochigen Hand, damit wir ihr folgen.
„Ich bin beides, weiß und schwarz“, rufe ich hinter ihr her. „Also dunkel und hell, ich kann mich beider Seiten bedienen.“
Wir folgen ihr durch den dunklen Flur, vorbei an der Treppe und hinein in eine Art Esszimmer. Am Boden liegt ein staubiger Orientteppich und mitten darauf steht ein Tisch mit je drei Stühlen an den langen Seiten. Mehrere Teeschränkchen stehen dicht an dicht an den Wänden und ich erspähe hinter bauchigen Glasscheiben einige Fläschchen mit dubiosen Inhalten.
„Ach, das funktioniert?“, sagt die alte Dame und dreht sich um, während sie sich an eine Stuhllehne festkrallt. „Man kann heutzutage beides sein? Weiß und schwarz?“
Naomi ergreift das Wort. „Sie ist genaugenommen eine Druidenhexe, die erste ihrer Art.“
Skeptisch zieht die alte Frau eine graue, dürre Augenbraue hoch und mustert mich von oben bis unten. „Sind Sie denn dann für diese Aufgabe überhaupt geeignet?“, fragt sie berechtigterweise.
„Ich denke schon, Frau…“
„Nennt mich Daphne. Einfach nur Daphne.“
„Und ich bin Scarlett“, stelle ich mich ebenfalls vor. „Ja, Daphne, ich denke schon, dass ich dafür geeignet bin. Wie schon gesagt, ich trage beide Seiten der Magie in mir und kann mich beider bedienen.“
Daphne legt den Kopf schief. „Mein Mann war eine starke dunkle Hexe“, sagt sie und strafft die dürren Schultern. „Er war mächtig!“
Respektvoll senke ich den Blick. „Ich kann Ihre Zweifel nachempfinden, Daphne. Aber glauben Sie mir, ich werde mein Möglichstes versuchen.“
Der anfangs freundliche Blick der alten Dame wandelt sich und ihr Gesicht wird zu einer erbosten, faltigen Fratze. „Ihr Möglichstes wird vielleicht nicht genug sein“, faucht sie, sodass ich unwillkürlich einen Schritt zurücktrete. „Ich brauche eine mächtige Hexe, keine Promenadenmischung!“
Naomi kichert, wohingegen ich mich tatsächlich von dieser kleinen, alten Dame eingeschüchtert fühle.
Dann macht Naomi einen Schritt nach vorne, legt ihre Hand auf meine Schulter und sieht zu Daphne hinab. „Daphne, Scarlett ist die Tochter des schwarzen Königs“, beginnt sie und wir können zusehen, wie die alte Dame vor Ehrfurcht erstarrt. „Ich würde doch keine Wald- und Wiesenhexe mitbringen, um die Magie ihres Mannes zu brechen.“
„Nein, nein… Das würden Sie nicht“, stammelt Daphne und verschränkt die Hände unterm Kinn. „Die Tochter des schwarzen Königs.“
Sie sieht mich lange an und ich weiß nicht so recht, wie ich mit ihrem Ausdruck von Ehrfurcht und Anerkennung in ihrem Blick umgehen soll. Ich bin nicht stolz darauf, die Tochter des schwarzen Königs zu sein.
„Und diese Narbe… Aber sie sind nicht die Hexenkönigin, oder?“, fragt sie schließlich, nachdem sie eine Weile nachgedacht hat.
„Nein, die amtierende Hexenkönigin ist meine Tante Roberta.“
„Roberta“, wiederholt sie und nickt. „Stimmt, mein Mann hat sowas erzählt. Er hatte auch im Sterbebett noch Kontakt zu anderen Hexen. Doch seitdem er das Zeitliche gesegnet hat, hat sich keiner dieser sogenannten Freunde mehr hier blicken lassen.“
„Deswegen sind wir ja nun hier“, sagt Naomi lächelnd.
Daphne seufzt. „Ja, nun muss ich für die Gesellschaft von Hexen und Schamanen bezahlen.“ Sie schüttelt mit dem Kopf, sodass sich ein paar ihrer weißen Strähnen aus dem Ungetüm ihrer Frisur lösen. „Wenn Arthur das noch erleben würde…“
„Wir leisten Ihnen ja nicht nur Gesellschaft, Daphne. Sie brauchen unsere Hilfe“, macht Naomi ihr klar, woraufhin die alte Dame sich umdreht und eine wegwerfende Handbewegung macht.
Wir folgen ihr um den Tisch herum zu einem hohen, zweitürigen Schrank, der zwischen den Teeschränkchen steht. Sie öffnet die Tür und zu meinem Erstaunen befindet sich dahinter ein Treppenabgang. Ich schaue verdutzt Naomi an, doch sie wirkt nicht sonderlich überrascht. Wahrscheinlich kennt sie diesen Geheimgang schon.
Müßig nimmt Daphne Stufe für Stufe der steinigen Treppe in Angriff, wobei sie stöhnt und ächzt. Ich wedle die Spinnenweben vor meinem Gesicht weg und muss leicht nach hinten gebeugt herabgehen, um mir in dem niedrigen Gang nicht den Kopf zu stoßen. Die Luft wird immer kälter und feuchter, je tiefer wir hinabgehen. Nach sechsundzwanzig Stufen erreichen wir einen viereckigen Raum, in dem nur noch Daphne aufrecht stehen kann. Wände und Decken sind aus grauem Beton und nur der schmale Lichtstrahl von oben erhellt den kühlen Raum.
Daphne geht auf die gegenüberliegende Wand zu und stemmt ihre Hände dagegen. Ein Knirschen ertönt und inmitten der Wand gibt der Beton nach. Ächzend schiebt sie weiter, bis ein rechteckiger Quader so weit nach hinten geschoben wurde, dass man durch den entstandenen Spalt hindurchgehen kann. Daphne geht vor, tastet sich an der Wand entlang und betätigt einen Schalter, der den Raum dahinter in gelblich, surrendes Licht hüllt.
Naomi geht zuerst durch die schmale Luke hindurch, dann folge ich. Ich muss vornübergebeugt gehen und stoße zu beiden Seiten mit meiner Hüfte gegen den kalten Beton. Doch was ich dahinter entdecke, lässt jeden Anflug von Klaustrophobie vergessen.
„Wow!“, flüstere ich und stelle mich wieder aufrecht hin, während mein Blick durch den Raum schweift.
Es ist ein runder Raum mit einem Durchmesser von schätzungsweise sechs Metern, dessen Wände bis zur kuppelartigen Decke mit Regalen, Schubladen und Schränken bestückt sind. An einer Seite ist ein niedriger Kamin aus dicken Findlingen erbaut, mit einem verklinkerten Schornstein, der sich zwischen den Regalen emporschlängelt. Auf der anderen Seite ist ein Schreibtisch in die Konstruktion aus Schränken und Schubladen eingelassen, davor steht ein kleiner Hocker mit einem Bezug aus Kaninchenfell. Hunderte von Büchern stapeln sich in den Regalen, neben ominösen Fläschchen und dubiosen Döschen. An die runde Decke ist ein riesiges Pentagramm gemalt und darunter baumelt ein eiserner Kronleuchter, dessen Kerzen durch Glühbirnen ausgetauscht wurden. Statuen von geflügelten Dämonen, gefallenen Engeln, Gargoyles, Pan und anderen gehörnten Wesen in allen erdenklichen Winkeln bewachen das Ganze.
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