1 ...8 9 10 12 13 14 ...19 „Ich konnte sie nicht fragen, Kitty“, antworte ich und halte ihrem Blick stand. „Sie flüchteten, als ich mich ihrem Wagen näherte.“
Sie grinst auf diese fiese Art, die ihr offenbar schon in Fleisch und Blut übergegangen ist. Auch wenn ich, im Gegensatz zu ihr, nicht die Fähigkeit des Gedankenlesens besitze, kann ich mir dennoch gut vorstellen, welcher dumme Spruch ihr gerade auf den Lippen liegt.
Wage es bloß nicht , denke ich und es scheint, als sei die Botschaft angekommen, denn sie verkneift sich den Kommentar über mein schreckliches Aussehen, das alles und jeden in die Flucht schlägt. Manchmal ist es doch ganz praktisch, dass sie Gedanken lesen kann.
Sie setzt sich auf den Stuhl und schlägt die Beine übereinander. Naomi und Jason kommen auch dazu und nehmen auf den noch freien Sitzen Platz.
„Hast du dir das Kennzeichen merken können?“, will Berny wissen.
Ich nicke. „Ja, aber ich hatte noch keine Zeit es Daniel Stahl durchzugeben.“
„Pff“, macht Jason und schüttelt mit dem Kopf. „Wir brauchten noch nie einen Bullen, um ein Kennzeichen zu überprüfen!“ Er zieht sein Tablet hervor, tippt ein paarmal darauf herum und sieht mich an. „Wie lautet das Kennzeichen?“
Ich sage es ihm und wir alle warten gespannt, was er dazu herausfindet. Nach wenigen Sekunden kräuselt sich seine Stirn.
„Das kann nicht stimmen“, sagt er, mehr zu sich selbst und schüttelt den Kopf. „Bist du sicher, dass du es dir richtig gemerkt hast?“
Doch bevor ich antworten kann, spricht Naomi mit glasigem Blick. „Es ist kein gültiges Kennzeichen“, sagt sie in dieser monotonen Singsangstimme, die sie immer bekommt, wenn sie eine Vision empfängt. „Es ist nur eine Täuschung.“ Sie blinzelt und ihre Augen sehen wieder normal aus.
„Es muss so sein, denn LEL gibt es gar nicht als Kennzeichen.“ Jason kratzt sich am Kopf und macht einen verwirrten Eindruck. „Und du bist dir sicher, dass es mit LEL begann?“
„Ganz sicher“, bestätige ich, als Kitty eine Hand auf meine Schulter legt. Verunsichert sehe ich sie an.
„Zeig es mir“, fordert sie mich auf.
Ich hasse es, Kitty in meinen Kopf zu lassen. Sie tut es ungefragt schon oft genug, aber es ist etwas anderes, ihr Zutritt zu Erinnerungen zu gewährleisten.
Sie legt den Kopf schief und lächelt. „Ach, komm schon“, säuselt sie und klimpert mit ihren langen weißen Wimpern, die wie hauchdünne Schmetterlingsflügel aussehen. „Ach, danke, Scarlett. Das ist aber ein hübscher Vergleich!“
Ich schüttle ihre Hand ab und ärgere mich über meine eigenen Gedanken. „Okay, dann mach es halt! Aber nur das Kennzeichen, verstanden? Stöbere nicht in meinem Kopf herum, als hättest du mein Tagebuch gefunden!“, ermahne ich sie mit erhobenem Zeigefinger.
Anstelle einer Antwort, legt sie die Hand wieder auf meine Schulter und schließt die Augen. Rasch konzentriere ich mich auf den gestrigen Abend, den Weg zum Booh, den Regen und das schwarze Auto hinter mir. Ich überspringe die Szene im Geschäft und denke stattdessen wieder an den nächsten Moment, wo ich auf der Straße laufe und der Wagen vor mir ist. Das Kennzeichen. LEL-LB:13.
„Sie hat recht“, sagt Kitty und öffnet die Augen. „LEL-LB:13, so lautet das Kennzeichen. Aber was noch viel wichtiger ist, Elvira wird uns verlassen.“
„Kitty!“, schnauze ich sie an und schlage ihre Hand von meiner Schulter. „Ich hatte dich doch gebeten, deine Schnüffelei auf das Kennzeichen zu beschränken!“
„Elvira wird uns verlassen?“, wiederholen Jason und Berny aus einem Mund.
Naomi nickt, als wusste sie bereits davon.
„Ja, sie zieht mit meiner Mutter an die Küste“, erkläre ich und spüre, wie meine Schultern unwillkürlich herabsacken. Chris legt mitfühlend seinen Arm um mich und streicht mit dem Daumen über meine Seite. „Sie hat es mir gestern Abend erzählt. Es ist bereits alles unter Dach und Fach. Ende der Woche sind sie weg.“
Einen Moment lang schweigen alle und sehen betroffen, enttäuscht oder traurig auf die Tischplatte.
Berny zuckt mit den Schultern und kratzt sich am Bart. „Also, verstehen kann ich sie schon. Wenn man so lange an einem Ort als Parapsychologe arbeitet, dann weiß man irgendwann einfach zu viel, um noch pfeifend durch die Gassen zu spazieren.“
Jason schüttelt mit dem Kopf. „Aber Wesen gibt es überall, nicht nur hier.“
Wieder zuckt Berny mit den Schultern. „Was man nicht weiß, macht einen nicht heiß.“
„Trotzdem, sie kann vor ihrem Wissen nicht davonlaufen“, widerspricht Jason und schiebt sich die braunen Locken hinter die Ohren.
„Vielleicht geht es gar nicht darum“, sagt Naomi mit sanfter Stimme. „Vielleicht möchte sie einfach einen Neuanfang mit ihrer Schwester starten, und hofft, dass Ella an der Küste wieder zur alten Ella wird.“
„Ich weiß nicht“, meldet sich nun Kitty zu Wort. „Ich finde es irgendwie enttäuschend, dass sich der ehemalige Superstar Elvira Taylor nun einfach so zur Ruhe setzt und alles aufgibt. Sie war immerhin eine echte Nummer im Business. Elvira Taylor , den Namen kennt doch wirklich jeder in der Branche!“ Sie deutet auf die Wände im Booh, an denen unzählige Bilder von Elvira und ihrem Team hängen.
„Wir wissen aber alle, wie sie eigentlich dazu kam, sich mit dem Paranormalen zu beschäftigen“, bemerkt Berny und senkt vielsagend die Stimme. „Es war nicht wie bei uns, dass wir hineingeboren wurden oder die Leidenschaft zum Beruf gemacht haben. Elvira ist in die magische Welt hineingestolpert, weil ihre Schwester vom schwarzen König geschwängert wurde. Das dürft ihr nicht vergessen. Sie suchte all die Jahre nur nach Antworten und Rache. Und beides hat sie bekommen.“
„Der schwarze König ist tot, Ellas Fluch ist gebrochen und Scarlett hat die Prophezeiung erfüllt“, fasst Jason zusammen. „Elviras Arbeit ist hier erledigt.“
„Trotzdem!“ Kitty verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich hätte mir einen Abgang mit mehr Tamtam gewünscht!“
„Und was wird aus dem Reisebüro und unserem Büro?“, will Jason nun wissen und bringt somit das Gespräch auf ein Thema, das ich lieber erst mit Chris unter vier Augen besprochen hätte.
„Da kümmern wir uns drum“, sagt Chris und drückt mich unmerklich fester an sich.
Ich nicke zustimmend. „Wir werden das Haus, samt Elviras Wohnung und dem Reisebüro kaufen.“
Alle Blicke sind auf uns gerichtet und ich versuche krampfhaft nicht an Herrn Marder und die Diamanten zu denken, damit Kitty nichts davon erfährt. Es geht schließlich niemanden etwas an, wie wir das Geld zusammentreiben, um das alte Haus zu kaufen.
Ich spüre eine Intensivierung des warmen Kribbelns auf meinem Brustbein. Chris sieht mich lächelnd an. Womöglich denkt er, ich hätte mich damit abgefunden, dass er sein Haus als Sicherheit für einen Kredit nimmt.
Doch das könnte ich niemals zulassen.
Ich schaffe es, alle weiteren Gespräche über das Reisebüro und den Hexenladen auf einen Zeitpunkt zu verschieben, an dem wir sicher wissen, ob wir das Haus bekommen oder nicht. So entgehe ich den eventuell aufkommenden Gedanken zu den Diamanten und meinem Abkommen mit Juwelier Marder, die Kitty wahrscheinlich wieder laut hinausposaunt hätte.
Stattdessen reden wir über alte und neue Aufträge. Naomi ruft mich zur Seite und berichtet mir von dem Auftrag, zu dem ich sie letzte Woche geschickt habe. Es ging um eine ältere Dame dessen Mann vor Kurzem verstorben war. Sie brauchte die Hilfe von jemandem, der mit den Toten kommunizieren kann. Zuerst hatte ich an Kitty gedacht, jedoch erschien mir unsere Schamanin Naomi für die Witwe mit der brüchigen Stimme besser geeignet. Naomi ist einfach einfühlsamer mit den Lebenden. Außerdem ging es der alten Dame nicht darum, den Geist ihres Mannes ins Licht zu schicken, sondern sie wollte mit ihm in Kontakt treten, und darin ist Naomi die Beste.
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