Harald Hartmann
Der Ausflug
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Inhaltsverzeichnis
Titel Harald Hartmann Der Ausflug Dieses ebook wurde erstellt bei
Aufbruch
Der Eisberg, der in der Sonne friert
Falschfahrer
Gescheiterte Befreiung
Verabschiedung
Zoo
Einsame Freundschaften
Die Turmuhr
Im Turm
Die dicke Frau
Die Rettung des Mondes
Pfade finden
Der Drache
Grenzüberschreitungen
Pi
Die Tochter
Vagabund
Ehrung
Der weiße Mann
Abtrennung
Der Baum, aus dem ein Stein wächst
Heimferne
Grundlosigkeit
Auszeit
Die große Welt
Spießrutenlauf
Heimatgefühl
Pissoir
Weltenretter
Folie 95
Die Hilfe
Die Fahrkarte
Busfahrt
Narrenstreich
Im Museum
Die kalte Sonne
Ohne Seite
Exquisite Süßigkeit
Impressum neobooks
Fünf Mal in der Woche klingelt mein Wecker. Er klingelt früh. Jedes Mal erschrecke ich mich. Und gleichzeitig, wirklich gleichzeitig, verlässt ein Wort meinen Mund, ohne dass ich die geringste Chance hätte, es zu verhindern. Möglicherweise gibt es von allen existierenden Wörtern in meinem Kopf keins, das in exakterer Symmetrie meine Gefühlswelt dieses Augenblicks widerspiegeln kann. Es ist ein kleines, schwaches und versteckt hinter einem gequälten, kaum hörbaren Stöhnen hervor blutendes Wort, mit dem ich resigniert gegen meine Unfreiheit rebelliere und ein müdes Scheiße murmele, so schlampig artikuliert allerdings, dass es einem Zuhörenden schwer fallen würde, dieses Wort als das zu identifizieren, das ich nur auf diese ohnmächtige Art zuzulassen mir angewöhnt habe, sodass mir damit der Vorwurf einer Rebellion von keinem bewiesen werden kann. Keine Spur von Aggressivität ist im Klang dieses Wortes zu dieser Tageszeit und in dieser Situation zu finden. Mein System wäre zum Transport solcher Gefühle auch noch gar nicht in der Lage. Zu diesem Zeitpunkt bedeutet das Wort nichts weiter als die erschreckte und erschreckende Einsicht in die Tatsache, dass ich noch lebe, aber keinen eigenen Willen von erwähnenswerter Handlungskraft habe.
Dieser kurze Moment der Wahrheit ist mir nicht gerade ein willkommener Gast und auch nur deshalb zu ertragen, weil er so flüchtig ist. Er stellt lediglich eine unliebsame Begleiterscheinung dar in diesem Prozess, der das Ziel verfolgt, mich gewaltsam zurück zu treiben aus der Weite meiner Träume in den Käfig der Realität. Somit könnte ich die Wahrheit auch eine Schwachstelle im System nennen, die noch von der Evolution beseitigt werden muss, um die lästige Störung des alltäglichen Glücks durch sie in einer schöneren Zukunft dereinst zu vermeiden.
Ich vermute, dass dieser ärgerliche und unangenehme Moment durch eine blitzschnelle chemische Reaktion hervorgerufen wird, ausgelöst durch dieses Klingeln, das ja in Wirklichkeit gar kein Klingeln mehr ist. Nur das Wort blieb erhalten. Das, was man immer noch Klingeln nennt, hat sich irgendwann gewandelt in ein scharfes, körperlichen Schmerz erzeugendes Piepen, das ich nicht ausstehen kann.
Mit Musik habe ich natürlich auch schon versucht, die Chemie zu überlisten und die natürliche Reaktion in seichtem Wohlgefallen aufzulösen, so wie viele. Aber das konnte ich noch weniger aushalten. Ich empfinde es als einen Missbrauch von Musik, mich ihrer in dieser Absicht zu bedienen. Dass sie mich aus meinen Träumen reißen soll, ist doch eine Perversion. Eine derartige Anwendung sollte ganz allgemein zu einem Straftatbestand erklärt werden. Ich möchte, dass Musik mich zum Träumen bringt. Wenn ein stimmgewaltiger Feldwebel mich aus dem Bett schrie, könnte ich das viel leichter akzeptieren, weil dieser Ton besser zu dem passte, was dann folgt, als wenn die Muse mich küsste, und ich mich ihr nicht hingeben könnte. Musik morgens ist somit auch keine Lösung. Wir würden uns gegenseitig hassen. Ich habe praktisch keine Wahl.
Also es piept, ich erschrecke, dadurch wird ein Neutron aus meinem stabilen Zustand, genannt „Süßer Traum“, heraus geschossen und verbindet sich mit dem frei umher fliegenden Schrecken des Weckerpiepens zu einem neuen stabilen Zustand, genannt „Morgendepression.“
Ich höre nun, während ich es sage, dieses kleine, zweisilbige Wort, und sogleich überfällt mich ein abgrundtiefes Mitleid mit ihm, weil es mir so unschuldig und hilflos erscheint. Es kommt aus meinem Mund heraus wie ein aus der Seligkeit des Ungeborenseins von einer brutalen Plötzlichkeit heraus geworfenes Wesen, das sich duckt unter den unerbittlichen Schlägen dieser Domina und hofft, mit einer Geste der Unterwürfigkeit entkommen zu können. Eine erbärmliche Scheiße ist das.
Nun bleibt mir nichts anderes mehr übrig. Ich tue ich mir Zwang an. Immer tue ich das an dieser Stelle. Ich vergewaltige mich. Bei sich selbst ist das offenbar erlaubt, wahrscheinlich eher noch erwünscht. Gegen meinen Willen, diesen armseligen Alibi-Willen, dem, wie zur höhnischen Erhöhung seiner Qual, seine Machtlosigkeit auf diese Art schmerzlich vorgeführt wird, stehe ich auf. Ich habe verloren. Immer verliere ich. Jeder neue Tag beginnt mit einer Niederlage. Der Gegner, gegen den ich verliere, ist sichtbar und unsichtbar, wenn ich ihn packen will. Er spielt mit mir. Ich bin die Maus, und er ist die Katze. Ich kann ihn gar nicht packen.
Ich finde mich wieder stehend auf den Beinen. Es ist immer dasselbe. Ich fange an, meine Klamotten zu suchen. Das Programm läuft ab, bis ich alles gefunden habe. Ich ziehe mich an. Socken, Unterhose, Hose, T-Shirt, Pullover. Ich bin ein einziger Automatismus. Ich gehe zum Kühlschrank. Ich setze mich an den Küchentisch. Ich esse einen Joghurt, den ich mit Honig vermische. Ich esse eine Banane, einen Apfel, eine Orange. Dabei sehe ich aus dem Fenster. Pünktlich führt die Nachbarschaft ihre Hunde Gassi. Immer dieselben Wege. Linke Straßenseite, rechte Straßenseite. Die Leute und Tiere bewegen sich fein säuberlich getrennt auf ihren fest einprogrammierten Seiten zu ihren fest einprogrammierten Zeiten. Die einen gehen schnell, die anderen langsam. Die Schüler trödeln. Die Welt ist in Ordnung. Man kennt sich, man grüßt sich, man will sich nicht kennen, man will sich nicht grüßen.
Die Arbeiter des Betriebs von gegenüber treffen allmählich ein. Sie parken ihre Autos am Straßenrand, als ob sie einer geheimen Regieanweisung folgten. Jeder scheint auf einen Parkplatz festgelegt zu sein als erste Wahl. Jeder sucht an der Stelle nach seinem Platz, an dem er schon immer, gestern und vorgestern und vorvorgestern, seinen Duft hinterlassen hat. Obwohl es eine freie Straße ist, auf der jeder Beliebige parken kann, werden Ansprüche erhoben auf Unbesitzbares. Tief im Inneren eines jeden tobt ein titanischer Kampf um richtig und falsch, Recht und Gerechtigkeit. Immer. Und gerade morgens in der Frühe, wenn die ersten Niederlagen schon erlitten sind, tobt er besonders schlimm.
Ich spüre die Wellen des Unmuts, des Ärgers, manchmal sogar der Wut, die von unten zu mir herauf schwappen und mich fast bis zu den Knien umspülen, der ich am Küchentisch sitze und meine Morgendepression absolviere, wenn ein Fremdling den beanspruchten Parkplatz bereits besetzt hat, so wie heute. Der gesamte bequeme, von Denken und Fühlen befreite Automatismus dieses Betriebsangehörigen ist dann augenblicklich von einer akuten Störung betroffen. Mit dem Interesse des Unbeteiligten verfolge ich das Geschehen aus der sicheren Distanz meines Olymps.
Anpassungsleistungen mit stark erhöhtem Energieaufwand setzen nun dort unten ein. Es dauert eine kleine Schreckenszeit, bis der gerade eingetroffener Parkplatzsucher, aufgescheucht aus seiner Erwartung der ewigen Normalität, sich beruhigt hat und merkbar unzufrieden und enttäuscht für dieses Mal einen falschen Parkplatz akzeptiert. Wahrscheinlich war es nicht seine erste Niederlage heute morgen, und ich war ihr Zeuge. Die Welt ist nicht in Ordnung.
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