Unten angekommen stehe ich im Garten. Er ist sehr gepflegt. Ein Rentner kümmert sich darum. Er ist schon bei der Arbeit. Er schenkt mir keine Beachtung. Ich glaube, er hat mich gar nicht gesehen. Sofort muss ich an meinen Blick in den Spiegel denken und weiß nun, was ich nicht sah. Die Unsichtbarkeit war es. Es ist nämlich so, dass ich unsichtbar bin, wenn ich nicht rechne. Im Alltag kennt man mich als einen Meister des Smalltalks. Aber jetzt habe ich keine Lust auf ein Gespräch und bin froh, darauf verzichten zu können, diese Kunst anwenden zu müssen. Ich bin froh, dass ich unsichtbar bin.
Normalerweise würde ich nun den schmalen Gartenweg benutzen, um den Garten zur Straße hin zu verlassen. Aber ich finde mich wieder, wie ich quer über die Beete und Rabatten meinen Weg nehme, ohne die geringste Rücksicht auf diese Zeichen der Ordnung zu nehmen. Ich staune. Etwas hat sich verändert bei mir in dem Moment, als ich unsichtbar wurde. Ich spüre, dass die Regeln der Sichtbaren keine Macht mehr über mich haben. Ich muss sie nicht mehr respektieren, weil sie mir nicht mehr drohen können. Im Schutz meiner Unsichtbarkeit trampele ich feige und gefühllos durch ihre Tabus. Macht ist stärker als das heiligste Heilige. Macht in seiner reinen Form ist ein von Gewissen befreites Energiekonzentrat, eine Droge mit schwindelerregendem Suchtpotential. Seine Auswirkungen sind sofort sichtbar. Mein mir so sorgsam anerzogenes Gewissen stellt sich heraus als ein flach wurzelndes Gewächs, ein Schönwetterwesen, das schneller umfallen kann, als ich es mir jemals habe vorstellen können. Nur weil ich unangreifbar bin, komme ich auf die Idee, Gemeinheiten begehen zu können, niedertrampeln und demütigen zu dürfen und das mit einer Lust, die aus der Rache zu kommen scheint, einer in mir vergraben gewesenen Rache, einem krummen Wesen, das sich nun hervor traut. Doch woraus ist es entstanden, dieses Gefühl, das in mir wohnt, und dessen Existenz zuzugeben, ich mich nie getraut habe? Ich schließe die Augen, um besser sehen zu können. Schemenhaft auftauchende Erinnerungen an frühe, längst verloren oder gar überwunden geglaubte Kindheitsgefühle werfen einen fahlen Schein über den Horizont meines Vergessenen, ähnlich wie das Streulicht der Mitternachtssonne etwas südlich des Polarkreises ein schwaches, orangenes Leuchten aussendet, zur Erinnerung, nur zur Erinnerung, dass da noch etwas ist, was ich kenne und was mich kennt. Ich spüre die Gefahr. Sie eilt mir zu Hilfe. Sie warnt mich, dass ich mich nicht von Macht missbrauchen lassen darf. Von keiner. Ich verspreche es.
Ich erreiche den Zaun und klettere hinüber. Dabei reiße ich mir an einem scharf hervor tretenden Draht die Hose auf genau am Hintern. Vor Schreck fange ich an zu rechnen und bin sofort wieder sichtbar. Doch ich zögere, meinem ersten Impuls zu folgen und den Berechnungen wieder vorbehaltlos zu vertrauen. Ich bleibe argwöhnisch wegen des falschen Resultats.
Guten Tag“, höre ich da eine dünne Stimme.
„Guten Tag, Frau Mayer. Wissen Sie eigentlich, dass Sie auf der falschen Seite gehen?“, sage ich.
Sie weiß es nicht. Sie ist schon alt. Alternativen gibt es natürlich genug. Sie tut so, als wisse sie nichts davon. Ich denke, sie rechnet falsch. Doch vielleicht tut sie es sogar absichtlich. Ich blicke ihr nach. Sie geht weiter auf der falschen Seite und macht nicht die geringsten Anstalten, die Seite zu wechseln. Vielleicht will sie mir damit etwas sagen, irgendeinen Hinweis geben auf etwas Wichtiges. Keiner geht einfach so auf der falschen Seite. Ich bin beunruhigt wegen dieser Beobachtung, und spüre gleichzeitig eine Welle der Beruhigung, die als Kompensation dafür durch den Riss in meiner Hose ungehindert den Weg in meinen Körper findet und ihn wieder in die Balance bringt. Es ist ein eindringender Strom von Kühle mit dem genau entgegen gesetzten Emotionserguss. Doch bleibt das Empfinden dieser gespaltenen Gefühlslage bestehen, die nicht gerade beiträgt zur Beendigung dieses seit eben in mir schwelenden Misstrauens. Ich entschließe mich, nicht den mich drängenden Berechnungen zu folgen, die vorlaut nach Handlungen schreien, sondern zunächst einmal nichts zu tun und zu sehen, was passiert. Ich öffne mich für Passivität und spüre sogleich, dass ich gut gewählt habe.
Tatsächlich klart es nun auf, und ich kann mich orientieren. Wie ich mit einem Blick feststelle, bin ich gerade unterwegs zum Bäcker. Ich bin überrascht, weil ich nicht wusste, dass ich das vorhatte. Wer lenkt meine Schritte? Hätte ich als mein eigener Eigentümer nicht als erster erfahren müssen, wohin ich gehe, weil ich es selbst so entschieden habe? Dieser Meinung bin ich jedenfalls. Erst jetzt, wo der ganze Vorgang schon läuft, bemerke ich, was ich tue und habe ein Gefühl von Gegangen-Werden. Wie kann ich mir selbst noch trauen? Ich wäre möglicherweise aus freien Stücken und ganz von selbst zum Bäcker gegangen, wenn mir diese Absicht früher eingefallen wäre. Ich fühle mich verwirrt. Der freie Wille wird mir langsam zu kompliziert. Dabei ist er ein freundlicher Bursche, der eigentlich nur spielen will. Denn ich weiß doch überhaupt nicht, was ich getan hätte, wenn mir meine Absicht früher eingefallen wäre. Vielleicht hätte ich sie ja nicht weiter beachtet und mich etwas anderem zugewandt. Hinterher sieht alles immer so klar aus, weil man mehr weiß als vorher. Aber darum geht es ja nicht. Es geht um die Zeit davor. Diese ungewohnte Ehrlichkeit zu mir selbst irritiert mich.
Ich kaufe immer zwei Brötchen beim Bäcker, ein Roggenbrötchen und ein mit Körnern gespicktes. Der Verkäufer fragt mich schon gar nicht mehr. So gute Freunde sind wir. Er sieht mich und hält mir die Brötchen schon eingepackt hin in einer dieser so knusprig raschelnden Papiertüten, dass man glatt Inhalt und Verpackung verwechseln könnte. Er zeigt mir sein übliches freundliches Lächeln. Ich mag ihn. Ich lächele zurück und sage:
„Heute hätte ich gerne zwei normale Brötchen und ein Croissant.“
Ich sehe in sein Gesicht und überlege für einen Augenblick, ob ich mir Sorgen um ihn machen muss. Vielleicht bin ich zu weit gegangen. Meine Worte haben ihn völlig unvorbereitet getroffen. Sein Lächeln ist erloschen. Er sucht nach Worten, findet aber so schnell keine. Es scheint mir, als wanke er bedrohlich. Er hält sich kurz an der Kasse fest, findet sein Gleichgewicht wieder, aber hat offensichtlich Probleme mit seinem explosionsartig gestiegenen Blutdruck. Ich kann da leider auch nichts machen. Das mit den zwei normalen Brötchen und dem Croissant ist nicht meine Idee gewesen. Ich lächele weiter freundlich. Er versucht, es mir gleich zu tun. Er ist ein wahrer ein Held, weil er auch noch gleichzeitig eine bei meiner Bestellung ganz fremde Addition auszuführen hat.
„1,95 Euro“, höre ich eine schwache Stimme sagen.
Dieses Resultat stimmt.
„Ich zahle morgen“, sage ich und gehe eiliger davon als sonst.
Es ist mir, als hätte ich soeben einen Freund verloren. Irgendwie schäme ich mich. Ich habe das Gefühl, als sei das Vertrauen zwischen uns auf immer zerstört. Vielleicht klingt es merkwürdig, aber mir ergeht es in diesem Augenblick nicht anders mit mir selbst. Der Boden unter meinen Füßen beginnt, einen mehr flüssigen Aggregatzustand anzunehmen. Weil ich nicht weiß, was los ist, beschließe ich, heimlich mein Tun zu beobachten, um Fakten über mich zu sammeln. Doch sofort verwerfe ich diesen Plan, weil das unehrlich mir selbst gegenüber wäre. Ich sollte keine Heimlichkeiten vor mir haben. Außerdem bezweifle ich, ob bei dieser Methode überhaupt wirkliche Fakten zu Tage treten können, oder ob ich im Sinne unehrlicher Heimlichkeit bestimme, was Fakten sind und was keine sind? Auch Fakten werden flüssig, wenn man sie erhitzt.
Ich stehe auf der Straße mit der Brötchentüte in der Hand. Sie hat sich meiner bemächtigt. Was soll ich nun damit? Es war eindeutig nicht meine Idee, Brötchen zu kaufen. Jetzt stehe ich da mit ihnen, und sie klammern sich an meine Hand. Ich spüre ihr Ziehen und Zerren, ihr Drängen, sie zu behandeln, wie man Brötchen zu behandeln hat. Ansprüche, überall Ansprüche, wo man auch hinsieht. Und wer Ansprüche hat, fängt Streit an. Nur wer Ansprüche hat. Ich muss sie unbedingt loswerden. Ich denke an meine aufgerissene Hose und freue mich über den Riss. Er stellt keine Forderungen an mich.
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