Nach und nach verlassen alle die Bühne. Einige applaudieren mir, dem Zuschauer, heimlich. Darüber freue ich mich sehr, lasse mir aber davon nichts anmerken. Wenn der Regisseur das gesehen hat, kriegen sie bestimmt Ärger.
Mein Telefon klingelt. Langsam ziehe ich es aus der rechten Außentasche, jetzt natürlich Innentasche, meiner Jacke. Ich halte es behutsam in meiner linken Hand und betrachte interessiert seine Methode, mit der es es schafft, meine Aufmerksamkeit erfogreich zu binden, festzubinden. Obwohl es selbst nicht mit Gefühlen ausgestattet ist, ist es in der Lage, Nerven töten zu können. Ein unterschwelliger Zweifel steigt hoch in das Licht meiner Wahrnehmung, ob diese Fähigkeit Zufall sein kann oder die planvolle Absicht eines Wesens, das kein Wesen ist, jedenfalls kein allgemein anerkanntes und damit ein, von seinem Status her betrachtet, Unwesen ist. Und doch hat es etwas von einem schreienden, hungrigen Baby, das gefüttert werden will. Es klingelt aus Leibeskräften.
Ich wundere mich, wie es überhaupt in meine Tasche gekommen ist. Es hat hier nämlich gar nichts zu suchen. Nicht mehr. Meine Idee war es ganz sicher nicht gewesen, einen Sender mitzunehmen, über den ich überall ortbar bin. Doch wie ist das Telefon in meine Tasche geraten? Es ist mysteriös. Ein anderer als ich selbst kann für diese Tat nicht in Frage kommen.
Es fällt mir auf, dass ich wieder einmal von nichts weiß. Es könnte sein, dass mir wichtige Informationen vorenthalten werden. Ich lege das klingelnde Handy neben mich auf die Bank. Es fährt unbeeindruckt mit der Klingelei fort. Ich spüre, wie dieses Geschehen mehr und mehr Aufmerksamkeit erregt. Ich sehe das Köpfedrehen, ich spüre die aus der Routine erweckten Blicke, die sich allmählich von missbilligend zu feindselig verwandeln. Es scheint, als bilde sich ein großer Kreis, der sich langsam zu schließen beginnt, enger und enger werdend. Und ich bin in seinem Zentrum. Es ist nicht mehr sicher hier für mich. Ich muss etwas unternehmen.
Ruhig und unaufgeregt nehme ich mein Telefon wieder in die linke Hand und drücke den Ausschaltknopf. Dann halte ich es an mein Ohr, als telefonierte ich. Die Lage entspannt sich sofort. Es ist noch einmal gut gegangen. Doch sollte ich besser jetzt gehen. Ist man einmal aufgefallen, hat man eine veränderte Sichtbarkeit.
Ich lege das Handy neben mich auf die Bank. Dann erhebe ich mich und gehe los. Ohne das geringste Bedauern verlasse ich es. Doch ich scheitere mit dieser Aktion. Wahrscheinlich habe ich beim Rechnen wichtige Faktoren außer Acht gelassen. Das Resultat ist falsch. Schon nach wenigen Schritten höre ich ein Geräusch hinter mir und eine Stimme. Ein Junge auf einem Rollbrett ist mir gefolgt. Er hält mein Handy in der Hand.
„Du hast dein Handy auf der Bank vergessen,“ sagt er.
Ich sehe ihn an. Er will nur freundlich sein. Ich nehme das Handy wieder in meine Hand. Ich lobe ihn und bedanke mich.
„Deine Hose ist hinten aufgerissen“, sagt er dann und deutet in Richtung des Risses. „Sieh nur, das ist mir auch passiert.“ Dabei zeigt er auf seine eigene zerrissene Hose.
Wir lachen beide. Ich fühle mich wie auf einer Schatzinsel mitten im Meer, einem Zufluchtsort für Schiffbrüchige. Schon ist der Junge wieder auf sein Rollbrett gesprungen. Ich sehe ihm nach. Seine Kleidung ist gewendet. Mit einer Hand winkt er mir zu, bevor er sich tollkühn in die geradlinige Rastlosigkeit stürzt, die sich vor ihm auftut, um auf ihr mit den eleganten Schwüngen seiner Hüften zu surfen. Er genießt das Leben sehr.
Ich mache mir Gedanken, ob seine Demonstration von Lebensfreude aus ihm selbst heraus entsteht, oder ob sie möglicherweise nur seine Aufgabe darstellt, für deren Erfüllung er zuständig ist. Ist er so etwas wie ein Bauer, der mit dem Rollbrett den harten Boden der Realität umpflügt, damit Luft nach unten gelangt und Neues sprießen kann? Neue Resultate vielleicht? Möglicherweise steckt aber auch mehr dahinter. Immerhin trägt er wie ich eine Hose mit einem Riss am Hintern. Seit ich keine Sklavenkleider mehr trage, erscheint mir sicher Geglaubtes nicht mehr sicher.
Die Fähigkeit, im Sicheren das Unsichere wahrnehmen zu können, diese Sensibilisierung könnte der Kern von Freiheit sein, um den sie Schicht um Schicht wachsen kann, wie eine Perle in einer Auster. Hüten muss ich mich vor der Sicherheit. Sie ist der menschengemachte Feind der Freiheit. Sicherheit ist nur eine Fessel, bestehend aus reiner Angst, um Sklaven daran zu hindern, wegzulaufen. Sicherheit ist ein Hirngespinst, ein ausgemachter Betrug. Sicherheit kann nicht das halten, was sie verspricht.
Wie ich auf der Schlagzeile einer Boulevardzeitung an einem Kiosk lese, sind Eisberge ab jetzt zur Verflüssigung freigegeben. Interessiert greife ich das Blatt und schlage es auf. Doch in seinem Inneren sind keine näheren Informationen darüber enthalten. Die Seiten sind weiß. Ich nehme mir vor, mich auf jeden Fall sehr vorsichtig zu bewegen aufgrund der schwierigen und unübersichtlichen Lage.
Seit das Handy ausgeschaltet ist, kann ich besser gehen. Obwohl es seit meinem Erlebnis auf der Bank am Rande des Marktes wohl schon so gewesen ist, fällt es mir erst jetzt auf. Ich bin leichter. Ich hatte gerüchteweise von diesem Effekt gehört, aber es nicht geglaubt. Allerdings bin ich auch nie das Wagnis dieses Experiments eingegangen, um mich darüber zu vergewissern.
Meine Schritte lenken mich zum Japanmuseum. Ich kann nichts dagegen tun. Mir kommt der Gedanke, dass ich schon wieder etwas bemerkt habe, was ich gar nicht bemerken sollte. Ich muss wirklich vorsichtig sein. Solange ich das geheim halten kann vor den geschlossenen Kreisen, ist alles gut. Dann droht keine Gefahr. Ich beschließe, die Leichtigkeit meines Schrittes zu verbergen und gehe mit verstelltem Gang.
Ich mag dieses Teehaus dort. Der Weg zu ihm ist einigermaßen verwinkelt, er dauert seine Zeit, und dann bin ich schon überrascht, wie unvermittelt ich da bin, sitzend an einem kleinen Holztisch mit Blick in den japanischen Garten. Gibt es vielleicht Zeitsprünge? Zum Glück falle ich auf diese Frage nicht herein. Ich merke gleich, dass es eine dieser Fragen ist, auf die es keine Antwort gibt.
Ich bestelle einen grünen Tee. Ich sehe die Kirschbäume in prächtigster Blüte. Das Blau des Himmels hinter den rosa Blüten wirkt in seiner Schärfe wie eine schallende Ohrfeige. Ich bin sofort hellwach. Ich weiß, mehr Japan geht nicht. Da kann etwas nicht stimmen. Perfektion macht mich immer misstrauisch und in Farbe besonders. Wie konnte ich von diesem perfekten Moment wissen? Sehr oft komme ich nicht hierher. Ich hatte keine Hinweise auf dieses gerade stattfindende Ereignis. Es sieht so aus, als habe ich schon wieder etwas getan, was nicht meine Idee gewesen ist. Ich muss handeln.
Ich höre auf zu rechnen. Weiter auf dem Stuhl sitzend erlebe ich, was die Vögel treiben. Ich schaue. Ich trinke Tee. Geöffnet liegt vor mir der Raum. Ich beginne zu schwingen wie die tiefe Saite einer Gitarre, wenn sie von einem Finger sanft gezupft wird. Ist das der Ritt auf der Freiheit? Oder nur die freche Gaukelei eines Trugbilds?
Ich weiß es nicht, weil ich den Unterschied von Bild und Trugbild nicht mehr erkennen kann. Die Kopien sind perfekter denn je. Die Wissenschaft hat dafür gesorgt. Ich bin ratlos. Ich vermute, dass ich nicht der Einzige bin. Die Rätsel werden immer größer. Ich erinnere mich, dass man mir die Lösung aller Rätsel versprochen hat. Heute morgen habe ich endgültig aufgehört, darauf zu warten. Da setzte der so lange angehaltene Atem wieder ein. Es wurde höchste Zeit.
Ich beginne wieder zu rechnen. Ich will zahlen. Als die Kellnerin meine zerrissene Hose entdeckt, steckt sie ihre Geldbörse wieder ein und erklärt, ich sei eingeladen gewesen. Forschend sehe ich sie an. Ich glaube, sie ist die Mutter des Jungen auf dem Rollbrett.
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