1 PROLOG
16. Dezember 1997,dreiundzwanzig Uhr achtundzwanzig.
Das Klingeln seines Handy´s ließ sein, „Unser Job ist durch keinen Computer...,“ im Lärm der Kneipe verhallen. Er riss den Apparat mitsamt der Ledertasche von seinem Gürtel, pulte ihn umständlich heraus, drückte im letzten Moment, bevor das fünfte „Freude schöner Götterfunken“ den Anruf auf seine Mailbox umgeleitet hätte, die grüne Taste, presste das Gerät an sein rechtes Ohr und hielt mit der anderen Hand sein linkes zu. Seine Augen weiteten sich, das Blut wich aus seinem vom Bordeaux geröteten Gesicht und mit jetzt aschfahlen Wangen, ein leicht dümmliches Grinsen auf den Lippen, schrie er in das Telefon: „Was? Oh Gott. Ich komme sofort.“ Monika und Bernd schauten ihn erschrocken an, aber er brachte keinen zusammenhängenden Satz heraus: „Oh Gott, oh Gott. Zahl für mich später, ein Taxi, oh Gott, ich muss los,“ Florian drängte sich durch die gerade in die Kneipe hereinbrechende Clique und war verschwunden.
Der Taxistand lag keine 200 Meter entfernt, doch als er um die Ecke bog, glaubte er, sein Herz bliebe stehen: leer, kein Mietwagen war zu sehen. Er suchte in seinem Kopf nach einer Telefonnummer, ohne Erfolg. Die schneidende Kälte, es war der 16. Februar, und die abendlichen Temperaturen hatten den Gefrierpunkt weit unterschritten, ließ ihn seinen Jackenkragen hoch schlagen. Sein Wintermantel hing zufrieden in der Wärme der Kneipe.
Als er sich gerade in Panik zur Umkehr entschlossen hatte, näherten sich die zwei Scheinwerfer eines Linienbusses, er verharrte zwischen Hoffen und Verzweiflung und dankte dann
seinem Herrgott, es war der 9o8er, nur 4 oder 5 Stationen und er war an seinem Ziel. Seine Sorge und Verzweiflung weckten ungeahnte Sprinterqualitäten in ihm und er schaffte es, durch die sich gerade wieder schließende Tür in sein Gottesgeschenk zu springen, ließ sich erschöpft nach Atem ringend auf die nächste Bank fallen, und seine Gedanken jagten dem Bus voran zu Charlotte in die Klinik. Angst überkam ihn. War etwas schiefgegangen? Mit zittrigen Händen bedeckte er seine Augen und versuchte sich zu beruhigen.
„Guten Abend, ihren Fahrausweis bitte,“ durch seine gespreizten Finger beobachtete er die beiden unauffälligen Lederjacken, die ihn mit ihrer Aufforderung in die Gegenwart zurückgeholten.
Sie meinten ihn, kein Zweifel. Er wollte zu einer ausführlichen Erklärung seiner Lage ansetzen, als er in seinem linken Auge das Krankenhaus vorbei fliegen sah. Mit wirrem Blick suchte er den Halteknopf, die beiden Kontrolleure weiterhin ignorierend, entdeckte ihn in Augenhöhe direkt neben einem von Muskelmassen prall ausgefüllten Ärmel der einen Lederjacke, über dem jetzt aus einem fleischigen, aber eigentlich zu kleinem Kopf mit stoppelkurzen Haaren eine für den massigen Körper viel zu hohe, ungeduldige Stimme erneut seinen Fahrausweis forderte.
„Notfall, ich muss ins Krankenhaus,“ Florian drückte mit aller Kraft seinen Daumen auf die Haltetaste, „höherer Notfall, übergesetzlicher Notstand sozusagen, sie verstehen meine Herren.“ Damit drängte er sich an seinen beiden sturen Herausforderern vorbei zur hinteren Türe. Die zwei Lederjacken, von denen eine dem Fahrer „lass die Türen zu, Paul,“ zurief, kamen gemächlich und bedrohlich auf ihn zu. Der Bus stand, aber die Türen blieben geschlossen.
Florian ergriff eine hilflose Wut und er schrie: „Meine Frau, verdammt, ich muss zu ihr, sie ist in der Klinik, ein Notfall, das müssen Sie doch einsehen,“ aber seine Häscher näherten sich, süffisant grinsend, unaufhaltsam. „Sie lassen mir keine andere Wahl,“ und mit schnellem Griff legte er den Schalter oberhalb der Türe auf „Hand“, zischend entwich die Pressluft, und ehe noch einer der verdutzten Kontrolleure reagieren konnte, zerrte Florian die Türe auf und verschwand in der Dunkelheit.
Am Eingang der Klinik, die er im gestreckten Galopp erreichte warf Florian einen Blick zurück und sah die Rücklichter des Busses im Dunst des gerade einsetzenden leichten Schneefalls verschwinden und mit ihm offensichtlich seine beiden Peiniger. Die Straße war menschenleer.
Er hastete an der Rezeption und einer vor sich hin träumenden Schwester vorbei, bog gleich darauf links ab und sprang, immer zwei Stufen auf einmal bewältigend, in die dritte Etage, schwang die Tür eines endlos scheinenden Ganges auf, bog in der Mitte in einen anderen Gang rechts ab, kollidierte dabei mit einer zierlichen Thailänderin, registrierte, völlig idiotisch, den Kontrast des dunklen Teints mit dem strahlend weißen Schwesternkittel, stoppte abrupt vor Zimmer 343, klopfte sacht und vorsichtig, dabei seinen Atem unter Kontrolle bringend, drückte, da er ein „Herein“ vermeinte gehört zu haben, die Klinke leise herunter und steckte seinen Kopf in das Zimmer.
Bleich und erschöpft lag Charlotte in ihrem Kopfkissen. Das fahle Licht der Nachttischlampe verlieh ihr etwas Gespenstisches. Florian näherte sich ihr auf Zehenspitzen, fast lautlos, streichelte ihr sanft die Wange und hauchte ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann kniete er sich vor das Bett, hob sacht die Bettdecke und konnte es nicht fassen, was sie machte, machte sie hundertprozentig: Der Bauch war weg.
"Ist alles gut gegangen, ich meine ist es, sie gesund?" er schaute sie gespannt an. Die Schwangerschaft hatte ihren spröden, etwas harten Gesichtszügen eine Weichheit und Sinnlichkeit verliehen, die ihn jeden Tag aufs Neue verwundert und seine Liebe zu ihr vertieft hatte. Sie strich ihm sanft über die hohe Stirn, "ja, mein Lieber, Mutter und Kind sind wohlauf, gesund und glücklich," ein amüsiertes Lächeln spielte um ihre Lippen. Mit einem tiefen Seufzer befreite er sich von seiner Angst.
Miriam, ihr Wunschkind, hatte ohne Komplikationen und mit bemerkenswerter Eile das Licht der Welt erblickt.
2 Drei Jahre später, im letzten Jahr des 2. Jahrtausend.
Szene 1
Aische, der Ersatzbabysitter, klingelte pünktlich um halb acht. Jasmin, die normalerweise auf Miriam aufpasste, war auf Klassenfahrt. Seine Tochter rannte hinter Florian her zur Tür, versteckte sich dann aber schüchtern hinter seinen Beinen. Aisches Vater war Türke und Florian hatte schon ein Kopftuch oder, noch schlimmer, einen Shador befürchtet, aber grundlos. Eine weiße Kunstpelzjacke und Jeans, die in dicken Fellstiefeln verschwanden, umhüllten ein gewaltiges junges Mädchen. Obwohl erst 17, hatte sie den Leibesumfang einer italienischen Mama nach 20 Jahren Pasta essen und einem halben Dutzend Kindern. Eine Plastiktüte mit Chips und anderen Schlankmachern baumelte an ihrem wulstigen Handgelenk.
"Hallo, komm rein, Du bist sicher Aiske, oder, Du verstehst doch deutsch?"
"Aische! Klar, isch bin doch hier gebore," der hessische Dialekt war nicht zu überhören, "und des isch die Mira, gell?"
Sie hatte nicht nur die Körperfülle einer italienischen Mama, sondern auch deren Talent, mit Kindern umzugehen. Miriam verlor rasch ihre Zurückhaltung und nach 10 Minuten hörte er vergnügtes Lachen aus dem Kinderzimmer.
Erstaunlicher Weise.
Seit ihrem 3. Geburtstag besuchte Miriam den Kindergarten und der Unterhaltungswert dort schien bedeutend höher, denn in den letzten 14 Tagen benahm sie sich zu Hause ihren Eltern gegenüber reichlich widerborstig.
Florian griff erleichtert zum Telefon und bestellte das Taxi, der Tisch im "Taormina", dem besten Italiener in der Stadt, war für halb neun reserviert, weder Charlotte noch Florian hatten Lust, den Abend mit San Pellegrino zu bestreiten.
Er ging ins Wohnzimmer zum Getränkeregal, wählte nach kurzem Zögern einen Carlos Primero und trank ihn langsam und genussvoll aus. Er fühlte sich ausgezeichnet und bewunderte sich selbst: Das Abenteuer eines neuen Lebens lag vor ihm.
"Du siehst bezaubernd aus, dieser seidene Hosenanzug macht Dich noch verführerischer, wir sollten uns noch ein wenig um Flo kümmern," damit nahm er Charlotte, die endlich, wenn auch schweren Herzens, dem Badezimmerspiegel den Rücken gekehrt hatte, in die Arme und ließ seine Fingernägel zart über die Haut ihres weit ausgeschnitten Rückendekolletees kreisen.
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