1. Hansi in Kiefersfelden
Ein eigentümliches Gefühl beschlich mich an jenem Dienstag, als ich die Lagerhalle aufsperrte. Nachts um halb zwei. Dienstag war immer Wochenbeginn für Nachtexpress-Fahrer. Sonntags hatten die meisten Firmen geschlossen. Am Montag wurde dann eifrig bestellt und in der Nacht ausgeliefert. Ich hatte die Aufgabe, die Tore der Halle zu öffnen und die Lieferlisten aus dem Fax-Apparat zu nehmen und zu sortieren. Wie jede Nacht machte ich das auch heute. Doch dieses Mal spürte ich, dass irgendetwas anders war! Aber was? Ich schaute im Papierfach nach, nahm den Toner heraus und gab ihn wieder hinein als ich nichts bemerkte. Guckte bei den bereits geöffneten Toren hinaus – nichts. Um den Schreibtisch drehte ich zwei Runden – nichts! Nun ein Blick auf den Boden rundum, dann zur Decke – nichts. Plötzlich sah ich etwas...da, da, da...daaa! Auf dem Papierstapel bewegten sich einige Seiten. Was war denn das? Zwei Äugelein lugten vorsichtig und doch fröhlich hinter den leeren Kopierblättern hervor. Zwei klitzekleine Ärmchen hielten sich daran fest. WOW! – Ein Teddybär! Uiuiui,
wo kam der denn her? Ganz zärtlich hob ich ihn auf und staunte nicht schlecht, als er sein niedliches Köpfchen bewegte und mich ansah. Das kleine Kerlchen bewegte sich tatsächlich. Er war Leben in ihm! Nicht möglich? DOCH!
Ich gab ihm den Namen „Hansi“ und adoptierte ihn. Vorerst durfte er nur im Lastwagen mitfahren, später auch auf die Berge gehen. Noch später auch...aber lassen wir das, ihr lest es ja im Buch und ein bisschen Spannung soll bleiben!
Ich komme aus den Bergen der Pyrenäen. Die Pyrenäen sind ein ca. 400 km langer Gebirgszug zwischen Frankreich im Norden und Spanien im Süden. Außerdem liegt dort auch Andorra, ein Zwergstaat und Naturjuwel der Extraklasse. Ungefähr in der Mitte zwischen Andorra und der Stadt Lourdes in Frankreich liegt das Teddybären-Camp. Dort heiße ich allerdings nicht Hansi, sondern Joan (sprich: Choan). Wie die meisten Bären bin auch ich ein Schleckermäulchen. Honig liebe ich sehr, aber Erdbeeren noch viel mehr! Oft suchte ich in den Wäldern danach. Meine Bärenfreundin, die Mimi, begleitete mich manchmal dabei. Einmal, als ich allein dahin spazierte, kam ich zu einer großen Waldlichtung voller Erdbeeren. Fleißige Frauen pflückten hier und gaben die Früchte in kleine Körbchen. Ei, war das eine Versuchung!
So schnell könnt ihr gar nicht schauen und husch – husch war ich in so einem Schälchen und naschte bis mir der Bauch weh tat. Dann bin ich eingenickt! Niemand hat den kleinen Teddybären entdeckt.
Als ich erwachte hörte ich nur „Trrrrrrrr“ und rund um mich herum waren ganz, ganz viele von den Körbchen mit Erdbeeren. Mit mir verladen auf einen großen Trucker! Angst überkam mich und ich habe sehr heftig geweint, weil ich nun wohl nie mehr nach Hause konnte. Die Mimi kam mir in den Sinn und ob sie ohne mich wohl traurig wäre? Klein und hilflos, allein und verlassen war ich nun den Gefahren des Lebens ausgesetzt. Wenigstens Hunger brauchte ich nicht zu leiden. Zum Essen war ja wirklich genug da! Irgendwann war diese Reise zu Ende und man hat mich in einer riesengroßen Halle abgeladen. Dort kletterte ich auf einen Schreibtisch und versteckte mich hinter einem Stapel Papier.
In meiner neuen Umgebung gefiel es mir von Tag zu Tag besser. Ich durfte im Lastauto mitfahren und beim Fenster hinausschauen. Abfahrt war um Mitternacht im Pinzgauerischen Mittersill, vorerst nach Kiefersfelden an der Bayerisch/Österreichischen Grenze nahe Kufstein zum Beladen und dann weiter nach Tirol. Im Dunkel der Nacht flogen Bäume und Häuser wie Schatten vorbei. In den Dörfern und Städten war alles herrlich beleuchtet. Die zahlreichen Auslagen hatten wunderschöne Dinge zu bieten: Torten mit Erdbeeren oder Marzipan drauf; Klamotten und Schuhe für die schicken Damen; Werkzeuge wie Bohrmaschinen und Sägen für die Männer und elektrische Eisenbahnen für die Buben, manchmal auch für die Väter. Puppenstuben waren wohl für die Mädchen. Ein Schaufenster in Innsbruck war besonders schön, da waren nämlich lauter weiße Engel drinnen, einer hübscher als der andere.
Wie es wohl wäre, wenn Teddybären auch Flügel wie Engel hätten? Das wäre lustig! Dann flöge ich zu den Kindern, nachschauen, ob sie brav schlafen.
Allmählich graute der Tag. Ich durfte mir die Beine vertreten und durch den Wald zu einer kleinen Berg-Kapelle spazieren. Mir Winzling erschien sie allerdings wie ein riesengroßer Dom. Einige Meter darüber thront eine bekannte Wallfahrtskirche, genannt „Maria Locherboden“, weil die Mutter unseres Herrn zu Besuch hier war und einem Bergknappen geholfen hat.
Nach dieser Pause ging es hurtig zurück nach Mittersill im Salzburger Land.
Für den nächsten Tag war eine Bergtour angesagt.
Ganz aufgeregt vor lauter Neugierde stand ich um 5 Uhr morgens auf. Ein gutes Frühstück gab Kraft für die Wanderung. Der Rucksack war schnell mit einer Bärenjause gepackt – Himbeersaft und ein Schoko-Honig-Müsliriegel.
Vor der Haustüre begrüßte mich eine Amsel mit ihrem Tiritirilum. Es klang, als ob sie sagen wollte: „Guten Morgen, der Hansi, der geht um“. Ein Fink sang dazu die zweite Stimme. Meisen zwitscherten freudig um die Wette und begleiteten mich ein Stück des Weges. Allmählich kam ich immer höher. Eichhörnchen waren auch schon wach und huschten flink von Baum zu Baum. Erdbeeren am Wegesrand waren eine willkommene Stärkung. Plötzlich hörte der Wald auf und ein wunderschöner Almboden breitete sich vor mir aus. Die Luft duftete eigenartig köstlich und geheimnisvoll. Alpenrosen lagen wie rosarote Teppiche über der Landschaft. Still genoss ich diesen Zauber der Natur. Gellende Pfiffe schreckten mich aus meinen sinnlichen Betrachtungen heraus. Drei oder vier junge Murmeltiere flitzten in ein nahe gelegenes Erdloch, um dort Schutz vor etwaigen Feinden zu suchen. Die Alte, welche gewarnt hatte, stand noch eine Weile davor und verschwand dann auch.
Ergriffen und wie berauscht setzte ich meine erste Bergtour fort. Auf den Bergspitzen waren deutlich die Gipfelkreuze zu sehen. In einiger Entfernung weideten Pferde und Kühe. Dass mir da eine gefährliche Bekanntschaft bevorstand ahnte ich jetzt noch nicht. Weiter, immer weiter bergauf. Das Kreuz erschien nun viel größer und kam ständig näher. Endlich stand ich davor, am Gipfelkreuz vom 2147m hohen Rinnkogel! WOW! Echt so was von cool, dass es fast nicht zu beschreiben ist. Tief unten im Tal wirkten die Häuser winzig klein. Ringsum waren die Gebirgszüge zum Greifen nahe. In einiger Entfernung standen die bekannten Eisriesen Großglockner und Großvenediger.
Auf einem Stein sitzend, packte ich voller Genuss meine Brotzeit aus und merkte nicht die vier, fünf, sechs oder gar sieben herankommenden Rinder! Einer Kuh erschien ich offensichtlich als besonders knusprig, weil sie bereits mit der Zunge schnalzte und nach mir schnappte. Blitzschnell drehte ich mich zur Seite, nahm todesmutig meine Jause und versteckte mich hinter einem Steinhaufen. Die Viecher wandten sich wieder dem Gras zu, wodurch in der anderen Richtung der Weg zum nahegelegenen Stachelzaun frei war. Dahinter war ich sicher und drehte ihnen voller Schadenfreude eine lange Nase. Einem gemütlichen Lunch stand nun nichts mehr im Wege.
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