Cristina Zehrfeld
Der kleine Herr Carl
Als der Maestro noch ein Lausebengel war
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Inhaltsverzeichnis
Titel Cristina Zehrfeld Der kleine Herr Carl Als der Maestro noch ein Lausebengel war Dieses ebook wurde erstellt bei
Das musikalische Umfeld Das musikalische Umfeld Über die Herkunft und die frühe Kindheit von Maestro Carl ist nicht viel bekannt. Immerhin steht in reichlich neunundneunzig Prozent der Publikationen über ihn, dass er aus einem traditionsreichen, musikalischen Umfeld stammt. Nun behauptet freilich fast jeder Musiker, dass er aus einem musikalischen Umfeld stammt. Das will nichts heißen. Bei Maestro Carl ist diese Behauptung jedoch keine leere Floskel, sondern eine tiefe Wahrheit. Maestro Carls Mutter spielte in ihrer Jugend Akkordeon, sein Vater spielte Mundharmonika, seine Tante hatte ein Klavier in der guten Stube stehen, sein Opa mütterlicherseits hatte einen Kanarienvogel, der die Melodie von „Drei Chinesen mit dem Kontrabass“ fehlerfrei pfeifen konnte, und die Großmutter war in der Familie die begnadete Spielerin der ersten Geige. Zweifellos wären die Carls schon viel früher zur Elite der musikalischen Überflieger aufgestiegen, wenn sie sich nicht nebenbei noch um ihren Broterwerb hätten kümmern müssen. Doch die Großeltern des kleinen Herrn Carl waren eben vor allem angesehene Betreiber einer Drogerie, und seine Mutter hat eine kaufmännischen Ausbildung absolviert. Danach ist sie ganz groß ins Käsegeschäft eingestiegen. Zuerst hat sie sich einen Tilsiter geangelt – also keinen Tilsiter Käse, sondern einen Mann aus Tilsit. Und wegen ihres untrüglichen Gespürs für Harmonien hat sie sich danach sofort einen Job bei der örtlichen Molkerei gesucht. Also fast sofort. Zuerst hat sie noch zwei Kinder bekommen. Zuerst den kleinen Herrn Carl und später das Carlinchen. Wie alle Eltern hatten die Carls große Pläne mit ihrem Nachwuchs: Die Kleinen sollten weltberühmt werden. Außerdem sollten sie tanzen - und zwar nach der Pfeife ihrer Eltern. Nichts Außergewöhnliches also, sondern genau das, was alle Eltern von ihren Sprösslingen erwarten.
Drum singe, wem Gesang gegeben Drum singe, wem Gesang gegeben Es ist noch nie ein Meister vom Himmel gefallen. Auch Maestro Carl ist nicht unmittelbar als Meister vom Himmel gefallen. Allerdings ist er eben ein Genie, und ein Genie wird man nicht so nach und nach. Ein Genie ist man sofort, also gleich mit der Geburt, oder man kann das vergessen. Der kleine Herr Carl war sofort ein Genie. Seine ersten musikalischen Lorbeeren hat er sich deshalb bereits aus der Kinderkutsche heraus verdient, und das ging so: Die Eltern des kleinen Herr Carl waren enorm stolz auf ihren Nachwuchs und haben den Knaben deshalb gern und oft durch die Straßen ihres Heimatortes Kräha geschoben. Zur musischen Anregung des Kindes haben sie dabei gern Kinderlieder vor sich hin gesungen. Obwohl sie ja nun schon sehr musikalisch waren, sind ihre Gesänge nicht von so hoher Qualität gewesen, wie der kleine Herr Carl es manchmal zu Hause vom Plattenspieler gehört hatte. Bei Familie Carl wurden immerhin Aufnahmen mit den Wiener Sängerknaben, den Regensburger Domspatzen, den Dresdner Kruzianern und den Leipziger Thomanern aufgelegt. Damit konnten die Eltern des kleinen Herr Carl stimmlich nicht mithalten. Der kleine Herr Carl war also unzufrieden mit dem Kulturprogramm, welches ihm auf Ausfahrten geboten wurde. Ein anderes Kind hätte seinen Unwillen vermutlich durch herzerweichendes Greinen zum Ausdruck gebracht, aber der kleine Herr Carl war schon als kleines Kind ein Weltverbesserer. Weil er aus dem Kinderwagen heraus die Welt nun nicht unmittelbar verbessern konnte, verbesserte er wenigstens die Misstöne seiner Eltern. Wenn Vater oder Mutter Carl also ein falscher Zungenschlag unterlief, stimmte der kleine Herr Carl das Lied von vorn an und sang es den Eltern vor. Diese begriffen jedoch nicht, dass das Kind ihnen nur eine musikalische Unterweisung gab. Stattdessen riefen sie alle verfügbaren Passanten heran, damit diese sich das Wunderkind anhören sollten. Als der kleine Herr Carl das Lied „Hänschen klein“ fertig gesungen hatte, stimmte die Mutter „Ri-ra-rutsch“ an. Natürlich traf sie die Töne wieder nicht genau, weshalb der kleine Herr Carl ihr das Lied glockenklar vorsang. Es folgten noch „Der Bi-Ba-Butzemann“, „Es geht eine Zipfelmütz“ und „Lirum, Larum Löffelstiel“, und selbstverständlich kam aus dem winzigen Mund des kleinen Herr Carl kein falscher Ton. Inzwischen standen etwa 50 Passanten um die Kinderkutsche herum, die nun frenetisch applaudierten. Der kleine Herr Carl war zuerst überrascht. Als der Beifall kein Ende nehmen wollte, fand er das allerdings ziemlich albern und schrecklich ermüdend. Er hat also die Augen zugemacht und ist sofort eingeschlafen. Deshalb hat es an jenem Tag keine Zugabe gegeben.
Kräha Kräha Es ist keine Schande, wenn Sie noch nie von Kräha gehört haben. Die reizvolle Heimatstadt des kleinen Herrn Carl gehört zu den kleinsten Städten Deutschlands. Dies, obwohl sie sich in den letzten Jahren mehrere Nachbardörfer einverleibt, und damit gehörig aufgeplustert hat. In Kräha hat das Töpfern eine lange Tradition. Außerdem wurde seit jeher viel Landwirtschaft und ein bisschen der Abbau von Granit betrieben. Nicht zu vergessen natürlich die Molkerei, in der Mutter Carl die Buchhaltung mustergültig erledigte. Interessant ist immerhin, wie der Ort zu seinem Namen gekommen ist. Offiziell wird behauptet, dass sich der Name der Stadt von der Schwarzen Krähe ableitet, einem rechten Nebenfluss der Elbe, der südlich der Stadt entspringt. Weil der kleine Herr Carl jedoch schon immer ein begnadeter Historiker war, versuchte er bereits seit frühester Kindheit, mit diesem Irrtum aufzuräumen. Auch mir hat er die wirklich wahre Geschichte der Namensgebung erzählt, und zwar wie folgt: Kräha wurde im Jahr 1248 urkundlich erwähnt, 1383 bekam der Ort das Stadtrecht verliehen. Zu jener Zeit herrschten mittelalterliche Zustände, denn es war die Zeit des Übergangs vom Hochmittelalter zum Spätmittelalter. An demokratische Verhältnisse war noch nicht zu denken, auch nicht bei der Vergabe von Ortsnamen. Ein weiser Mann hat also damals selbstherrlich festgelegt, dass der Ort nach dem ersten Vogel benannt werden sollte, der sich auf der mächtigen Linde auf dem Marktplatz niederließ. Man musste lange warten, denn der Trubel und das Gedränge waren groß. Keiner wollte das Ereignis verpassen. Beinahe hatte sich schließlich eine Elster auf dem Baum niedergelassen. Doch weil die Menschenmenge ein wenig zu früh in Begeisterung ausbrach, drehte der schöne Vogel ab. Der Rat der Weisen beschloss, dass eine Beinahelandung nicht zählte und die Menschen mussten weitere zwei Stunden warten. Die Spannung ließ sich nicht mehr steigern, deshalb waren die meisten schließlich eingeschlafen, als sich endlich eine alte, zerzauste Krähe auf der Linde niederließ. Nicht alle waren wirklich zufrieden. Immerhin wären Spechta, Wendehalsa oder Kauza auch sehr schöne Ortsnamen gewesen.
Die musikalische Früherziehung Die musikalische Früherziehung Man kann gar nicht früh genug mit der musikalischen Ausbildung von Kindern beginnen. Singen, Tanzen, Instrumentenkunde, Notenlehre und das Spielen auf Orff-Instrumenten für Kinder ab vier Jahren gelten ja längst nicht mehr nur in den oberen Gesellschaftsschichten als völlig selbstverständlich und unverzichtbar. Allerdings war das, was heute als musikalische Früherziehung in aller Munde ist, zur Kinderzeit des kleinen Herr Carl keinesfalls die Regel.
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