Cristina Zehrfeld
Carli macht Karriere
Wie Maestro Carl weltberühmt wurde
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Inhaltsverzeichnis
Titel Cristina Zehrfeld Carli macht Karriere Wie Maestro Carl weltberühmt wurde Dieses ebook wurde erstellt bei
Fehlstart
Unabkömmlich
Fehlbesetzung
Bauarbeiter sind keine Konzertgänger
Einhunderttausend Zuhörer pro Jahr
Ämterhäufung
Was lange währt
Edith und der Lehrausbilder
Carli gibt den Fischer-Dieskau
Reden ist Silber
Herr Georgi macht ernst
Des Widerspenstigen Zähmung
Die Lebenden und die Toten
Über die wahre Liebe zu den Menschen
Von Nackedeis und Herzrasen
Das erste Gebot
Die Liege
Der Sahnedrops
Inkognito
Carli wird Vater
Vater Carli und Vater Staat
Sibirischer Zobel und Darmverschluss
Superlative
Carli wird unauslöschlich
Präzissionsarbeit
Carli mimt den Bach
Richtungweisend
Das Repertoire
Die Horcher an der Wand
Kalinka
Die Legende von Carli
Herr Anmut
Die Sicherheitsbehörden denken mit
Aufgestanden
Glück im Spiel
Der dreißigste Geburtstag
Heimlichkeiten
Obdachlos
Buschendorns Schuld
Abschiedskonzerte
Sonntag der Dreizehnte
Stecknadeln und Stinkekäse
Das große Entsetzen
Plaste-Eisbecher und Elektronika
Das Verdienst des Herrn Anmut
Der Omega
Das Bett
Die Dornenvögel
Geheimnisverrat
Für den Fall der Fälle
Warum Carli die Republik verlassen hat
Kokain
Impressum neobooks
Die Karriere von Herrn Carl hat mit einem unglaublichen Patzer begonnen. Ich würde diese beispiellose Peinlichkeit gern unter den Tisch fallen lassen, aber das geht natürlich nicht. Wenn ich alles Peinliche, alles Unerhörte, alles Unsägliche und alles Ärgerliche aus dem Leben des Maestro Carl unter den Tisch fallen ließe, dann würde seine Biografie auf die Länge einer halben DIN-A4-Seite schrumpfen. Deshalb sage ich es gleich hier und jetzt: Wer mit unangenehmen Wahrheiten nicht leben kann, der sollte dieses Buch sofort weglegen. SOFORT! Maestro Carl hat nämlich von Anfang an zu mir gesagt: „Frau Kritzelt, wenn Sie schon unbedingt über mich schreiben wollen, dann müssen Sie gnadenlos sein. Sie müssen alle Wahrheiten ungeschönt auf den Tisch legen. Alle! Auch die Unangenehmsten. Sie müssen Ross und Reiter benennen.“ Das hat Maestro Carl gesagt, und zwar wortwörtlich, und deshalb lasse ich den Fehlstart ebenso wenig weg wie alle anderen unangenehmen Details. Liebe, hochverehrte Leser, wenn Sie jetzt immer noch weiterlesen, sollten Sie sich hinterher nicht beschweren. Ich habe Sie gewarnt. Bei Herrn Carl war mit einem Fehlstart mitnichten zu rechnen gewesen, denn alles hätte ja bis zu diesem Zeitpunkt kaum besser laufen können. Herr Carl war in eine exorbitant musikalische Familie hineingeboren worden. Er war bei seiner Ausbildung von einer musikalischen Koryphäe zur nächsten gereicht worden. Er hatte sich bei Wettbewerben wacker geschlagen und sich dank zahlloser Konzerte schon während des Studiums eine treue Fangemeinde aufgebaut. Sein Genius hatte die einflussreichsten Persönlichkeiten der Republik so tief beeindruckt, dass man schon während seiner Studienzeit damit begonnen hatte, ein Konzerthaus eigens für Herrn Carl zu bauen. Inzwischen hatte man ihn sogar mit großer Geste zum ersten Konzerthausorganisten ernannt. Nun allerdings, als Herr Carl das Diplom in der Tasche und große Ziele vor Augen hatte, jetzt, da er den Elan zu einem großartigen Karrierestart in sich trug, war seine Glückssträhne vorbei. An seinem ersten Arbeitstag eilte Herr Carl zu seinem Konzerthaus, um sich in die Arbeit zu stürzen. Doch was musste er feststellen: Seine Orgel war noch nicht spielbereit. Die Orgel war nicht nur nicht spielbereit, sie war noch gar nicht eingebaut. Herr Carl war fassungslos. Das Konzerthaus, dessen erster Konzerthausorganist Herr Carl auf dem Papier bereits war, dieses Konzerthaus befand sich noch mitten im Rohbau. Natürlich hatte Herr Carl die zögerlichen Baufortschritte bereits seit mehreren Wochen mit wachsender Unruhe verfolgt. Doch er ist immer ein Optimist gewesen. Bis zuletzt war er sicher gewesen, dass ein Wunder geschieht. Oft genug hatte Herr Carl davon gehört, dass über Nacht nicht nur Konzerthäuser, sondern ganze Schlösser erbaut wurden, wenn man nur einen guten Namen hatte. Wenn man zum Beispiel Aladin hieß und eine magische Öllampe besaß. Die Republik hatte einen ganz wunderbaren Namen, und den Besitz einer Öllampe hatte sie auch längst unter Beweis gestellt. Damals beispielsweise, als die Republik einfach so über Nacht jene Autobahn von Berlin nach Dresden hatte bauen lassen. Fast zwanzig Jahre war es inzwischen her, dass man eben diese Autobahn zum Trocknen in Berlin aufgehängt hatte. Allerhöchste Zeit also für ein neues Wunder. Doch dieses Wunder blieb aus, und Herr Carl musste sich mit dem Unfassbaren abfinden: Er war der erste Konzerthausorganist ohne Konzerthaus.
Schuldzuweisungen nützen keinem. Deshalb ist es müßig, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, ob der unfertige Konzerthausbau der Bummelei der Bauarbeiter geschuldet war, oder ob nicht vielleicht Herr Carl seine Studien zu flink abgeschlossen hatte, ob er also, wie so oft, seiner Zeit weit voraus war. Vielleicht hatte auch nur irgendwer die Öllampe verbummelt. Die Verzögerung des regulären Berufsstarts von Herrn Carl wäre im Grunde völlig gleichgültig gewesen. Sein Terminkalender war voll. Nur mit Mühe gelang es ihm überhaupt, alle Konzertanfragen zu berücksichtigen. Doch es ging in diesem Fall nicht um Herrn Carls Arbeitspensum. Es ging um die Sicherheit des Staates! Herr Carl war jung, dynamisch und zu jedem Opfer bereit. Insbesondere war er bereit, sein kleines, unbedeutendes Leben ohne zu zögern für sein großes, bedeutendes Vaterland hinzugeben. Das war keine Aufopferung, sondern die reine Selbstverständlichkeit. Alle jungen Männer hatten in der Republik mit Vollendung des achtzehnten Lebensjahres die ehrenvolle nationale Pflicht, als Wehrdienstleistende das Vaterland und die Errungenschaften der Werktätigen zu schützen. Auch Herr Carl hatte diese Pflicht. Allerdings hatte er ihr zu seinem unendlichen Bedauern noch nicht nachkommen können, weil ihn dringende schulische Obliegenheiten abgehalten hatten. Er war, wie es so schön hieß, für die Dauer des Studiums vom Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee, kurz NVA, zurückgestellt. Dieser Grund war nun definitiv entfallen. Herr Carl war folglich ganz und gar erfüllt von dem Wunsch, sich in das geordnete Leben einer Kaserne einzufügen und sein Vaterland mit der Waffe in der Hand zu verteidigen. Mit Freuden wäre Herr Carl für sein Vaterland durch den Schlamm gerobbt und über Eskaladierwände geklettert. Da das Konzerthaus nun ohnehin noch nicht fertig war, wollte er am liebsten unverzüglich seinen Wehrdienst antreten. In froher Erwartung der Einberufung hatte er seinen Wehrdienstausweis stets griffbereit. Doch es hat nicht sollen sein. Obwohl sein Arbeitsplatz noch von Baulärm erfüllt war, wurde Herr Carl wegen fachlicher und sonstiger Qualifikation als unabkömmlich vom Wehrdienst freigestellt. Er bedauerte es zutiefst. Doch Herrn Carls Unglück war ein großes Glück für die Bevölkerung. Im Ernstfall wäre Herr Carl mit seiner grenzenlosen Friedfertigkeit ein unkalkulierbares Sicherheitsrisiko gewesen.
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