Carli gibt den Fischer-Dieskau
Oftmals beklagte sich Carli, dass seine Leistungen nicht anerkannt würden. Die Bezahlung im Konzerthaus war günstigstenfalls mittelmäßig, und die Ehrungen haben ohnehin stets die anderen bekommen. Doch zwei Jahre nach Eröffnung des Konzerthauses war endlich auch Carli mit einer Auszeichnung dran. In einer wortreichen Huldigung bestätigte Professor Kurth dem lieben Kollegen Carli, dass er schon vor der Eröffnung des Hauses dazu beigetragen hat, den Neubau der Orgel in bester Qualität durch seine Beratung zu fördern. Nicht jedes Detail wurde freilich gewürdigt. Kurth ließ in seinen Lobesworten den rostroten Fleck auf Carlis fliederfarbenem Anzug ebenso unangesprochen wie den Polier Heinzelmann, der eine Erwähnung als grobschlächtiger Kunstbanause durchaus verdient gehabt hätte. Professor Kurth attestierte Carli stattdessen, dass er sich durch beispielhaften Einsatz hohe Verdienste erworben und weit mehr Stunden der Orgelmusik übernommen hatte, als vertraglich vereinbart. Professor Kurth lobte, dass Carli Kollegen und Publikum durch seine hohen künstlerischen Leistungen bei Konzerten und bei Fernsehübertragungen überzeugt hatte, und er vergaß auch nicht anzumerken, dass Carli einmal kurzfristig für den erkrankten Bariton Dietrich Fischer-Dieskau eingesprungen ist. Entgegen anderslautenden Gerüchten kann ich aber mit Gewissheit sagen, dass Carli bei diesem Einsprung durchaus nicht die ursprünglich geplante Winterreise von Franz Schubert gesungen hat. Dennoch hatte Carli natürlich Unglaubliches geleistet. Für seinen unermüdlichen Einsatz hat er deshalb den in Gold-Rot glänzenden Orden „Aktivist der sozialistischen Arbeit“ bekommen. Carli war gerührt. Besonders, nachdem er die extra für ihn auf der Rückseite des Ordens eingravierte Maxime gelesen hatte, die da lautete: „Auf sozialistische Art zu leben, erfordert auf sozialistische Art zu arbeiten.“
Das Konzerthaus war so gewaltig und so außerordentlich schön, dass Musikliebhaber aus aller Welt anreisten, um es zu bestaunen. Natürlich wäre es jedem davon das Liebste gewesen, sich stundenlang in den ganz und gar herrlichen Konzerten den Rücken krumm zu sitzen und atemlos Carlis Kunst zu lauschen, aber für alle Besucher reichten leider die Konzertkarten nicht aus. Außerdem gab es neben den auditiven Menschen, denen der schöne Klang das Wichtigste war, schon immer auch viele visuell veranlagte Menschen. Denen war es ziemlich egal, ob im Konzerthaus gerade die Musik spielte. Sie wollten das schöne Haus sehen, einen Blick ins Innere der Orgel werfen und all diese Herrlichkeiten erklärt bekommen. Für diese Menschen hat sich die Konzerthausleitung etwas Besonderes einfallen lassen: Eine Konzerthausführung mit Vorstellung der Orgel. Immer wieder musste Carli Besuchern aus dem In- und Ausland seine Orgel erklären. Selbstverständlich konnte nur Carli das tun, denn niemand kannte die Orgel so gut wie er. Außerdem wollten die Besucher den inzwischen weltberühmten Carli mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören. Möglichst wollten sie ihn auch mit eigenen Händen anfassen, um zu überprüfen, ob er tatsächlich echt ist. An einem schönen Tag im Oktober hatte sich wieder einmal hoher Besuch angekündigt. Eine Staatsdelegation aus dem nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet, nämlich aus dem Freistaat Bayern, wollte sich die Orgel von Carli erklären lassen. Für Professor Kurth hatten solche internationalen Gäste immer höchste Priorität. Es verstand sich von selbst, dass alle anderen Termine hinter diesen zurücktreten mussten. Carli allerdings hat das Unglaubliche getan: Er hat den Bayernbesuch ohne Vorwarnung geschwänzt. Professor Kurth war außer sich. Erst recht, als er erfuhr, dass Carli den Bayernbesuch wegen eines schnöden Konzerts im gänzlich unbedeutenden Rötha hatte sausen lassen. Carli verstand die Aufregung nicht. Er belehrte Kurth süffisant: „Reden ist Silber, Spielen ist Gold.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.