1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 „Und ich nehme an, die Versicherung wundert sich, dass Sie von dieser Schwarzen Messe nichts wussten und will nun nicht zahlen?“
„Ich weiß von Kollegen, dass so etwas hin und wieder vorkommt. Die brechen ein, weil sie mal eine Leiche sehen wollen, diese Spinner. Aber ansonsten war das alles harmlos. Von irgendwelchem Ritualkram war bei den Kollegen nie die Rede gewesen.“
„Zeigen Sie mir noch mal die Fotos“, sagte Schücking schließlich mit vollkommen veränderter Miene.
Kattenstroth fragte nicht, was das jetzt wieder sollte, sondern reichte ihm einfach die Bilder. Er war wirklich sehr verzweifelt. Und langsam gingen ihm auch die Ideen aus, warum er noch länger in diesem Haus verweilen sollte.
Schücking holte eine große Lupe aus dem Wohnzimmer, schaltete die Designerlampe über dem Küchentisch ein und betrachtete die beiden Ausdrucke eingehend. Kattenstroth beobachtete ihn still und wartete. Der Kunsthändler ging vollkommen in der Betrachtung der Bilder auf. Er kaute gedankenverloren auf seiner Unterlippe, runzelte mehr und mehr die Stirn und brummte gelegentlich leise wie eine dicke Hummel. Schließlich legte er die Lupe und die Bilder beiseite, nahm die Brille ab und rieb sich langsam, beinahe übervorsichtig, die Augen.
„Und?“, fragte Kattenstroth mit einem Funken Hoffnung.
„Die Bilder auf dem Cover erinnern mich an etwas. So was Ähnliches habe ich schon mal gesehen. Und das nicht zu knapp.“
Schücking stand auf und holte sein Notebook aus dem Wohnzimmer. Nach wenigen Momenten des Suchens im Internet drehte er es um und zeigte es Kattenstroth.
„Was sehe ich hier?“, fragte der irritiert.
Er versuchte, schnell ein paar Infos über Schückings Internetzugang aufzuschnappen, ohne gleichzeitig das Thema aus den Augen zu verlieren. Auf der Seite waren Bilder von einem alten Buch, Texte, Zeichnungen von Pflanzen, nackte Frauen in einem Bad oder See. Und wieder jede Menge Text, den er allerdings nicht lesen konnte. Diese Buchstaben hatte er noch nie gesehen. Die Zeichnungen der Pflanzen wiesen aber in der Tat eine vage Ähnlichkeit mit denen auf dem Frontcover des Kinderbuches auf.
„Das ist das sogenannte Voynich-Manuskript. Ein Text in einem vollkommen unbekannten Alphabet, der bisher nicht entschlüsselt werden konnte. Man ist sich nicht einmal sicher, ob es sinnvolle Worte ergibt. Die Pflanzen, die darin abgebildet sind, sehen echten Pflanzen ähnlich, weisen aber auch Abweichungen auf, die keinen Sinn ergeben. Die Röhrenkonstruktionen in den Bildern mit den nackten Frauen sind absolut rätselhaft. Die Forschung ist sich inzwischen sicher, dass es im fünfzehnten Jahrhundert entstanden sein muss, aber zu welchem Zweck, ist bisher vollkommen unklar.“
„Eine Fälschung?“
„Es ist wirklich so alt, falls Sie das meinen; die Kette von Vorbesitzern ist zwar etwas lückenhaft, aber die Untersuchungen haben eindeutig ergeben, dass es vor etwa fünfhundert Jahren geschrieben worden ist, nicht später. Aber für wen? Und warum? Falls es sich um einen sinnfreien Scherz handelt, hat sich jemand verdammt viel Arbeit gemacht. Der Kodex besteht aus über hundert Seiten, das macht man nicht aus einer Laune heraus, ohne dass es Sinn ergibt. Und es hat durchaus Methode. Der Text weist Regelmäßigkeiten auf, allerdings nicht durchgängig. Manche Buchstabenkombinationen machen keinen semantischen Sinn, andere erscheinen sprachlich stringent. Ein absolutes Rätsel, das die Wissenschaft seit Jahren in Atem hält.“
Schückings Augen glänzten beinahe fiebrig vor Begeisterung, der Mann war hier in seinem Element. Fast beneidete Kattenstroth ihn um die Leidenschaft, mit der er seinem Beruf nachging, aber es war auch ein wenig beunruhigend.
„Und Sie meinen, dieses Vollnich-Dingens hat mit unserem Kinderbuch zu tun?“
„Voynich-Manuskript. Nein, nicht direkt. Ich sagte nur, es erinnert mich daran. Die Zeichnungen der Pflanzen haben eine gewisse Ähnlichkeit. Vor allem diese hier.“
Er scrollte das Bild herunter zu einer Abbildung einer großen Blüte, die weit geöffnet war und ihre Stempel wie Tentakel von sich streckte, als wolle sie Insekten einfangen.
Kattenstroth griff noch einmal zu den Fotos und nahm die Lupe zur Hand. Schücking hatte recht. Das Bild auf dem Cover zeigte unter anderem eine Pflanze, die eine gewisse Ähnlichkeit aufwies. Mit dem Unterschied, dass die Kinderbuch-Blüte tatsächlich etwas mit den Tentakeln eingefangen hatte. Das Gefühl des Unbehagens kehrte mit Macht zurück. So genau hatte er bisher nicht hingeschaut, aber nun ließ es sich nicht leugnen.
„Sagen Sie, finden Sie nicht auch, dass das auf dem Bild hier aussieht, als hätte die Pflanze einen Menschen in ihrer Blüte verschlungen?“
„Ich habe mich schon gefragt, wann Ihnen das wohl auffallen würde.“
„Warum haben Sie nichts gesagt?“
„Sie hatten doch ohnehin schon so ein mulmiges Gefühl bei der Sache.“
„Das war erstaunlich sensibel für Ihre Verhältnisse, nehme ich an.“
Schücking zuckte ungerührt mit den Schultern. „Also, was denken Sie? Die Ähnlichkeit ist immerhin gegeben. Die blassen Farben, die Abweichungen in den Details, so dass es unmöglich echte Pflanzen darstellen könnte.“
„Zugegeben. Aber einen Unterschied gibt es.“ Er hatte Schückings ungeteilte Aufmerksamkeit.
„Bei der Betrachtung der Fotos fühle ich mich unbehaglich. Die Abbildungen des Manuskriptes gehen mir am Arsch vorbei. Interessant sicherlich, aber keinesfalls irgendwie bedenklich.“
Schücking war bei seiner unflätigen Ausdrucksweise kurz zusammengezuckt, hatte dann aber seinen üblichen spöttischen Blick aufgesetzt.
„Das mag sein. Es war auch nur ein Gedanke.“
„Empfinden Sie das nicht?“ Er wedelte mit den Fotos vor Schückings Gesicht hin und her, so dass dieser ein wenig zurückwich.
„Ich sagte Ihnen doch bereits bei unserer zweiten Begegnung, dass ich den Anblick dieser Bilder als durchaus verstörend und krank empfinde. Und ich sagte Ihnen auch, dass ich den Eindruck hatte, das Mädchen habe mich in einer fremden Sprache verflucht.“ Er wies vielsagend auf den Text auf dem Bildschirm.
„Sie meinen, die kleine Janice Dörmann spricht in der Sprache, in der das Manuskript geschrieben ist? Mann, Sie haben aber eine blühende Fantasie.“
„Elvis lebt und der Mond wurde nie betreten“, antwortete Schücking ohne Zusammenhang. „Nein, ich bin kein Freund von Verschwörungstheorien, obwohl sie eine sehr kurzweilige Unterhaltung darstellen können. Immerhin leben wir beide in einer Stadt, die nicht existiert, wenn man diesen Theorien Glauben schenken darf.“
„Ich glaube, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.“
„Den Eindruck habe ich in der Tat auch. Was ich damit sagen möchte, ist, dass hinter dieser Kinderbuch-Sache möglicherweise viel mehr steckt, als wir bisher überblicken können. Oder das Kind ist aus einem ganz anderen Grund vollkommen verhaltensgestört. Eine Vermutung, die Sie nicht ausschließen dürfen.“
„Aber das Unbehagen, das von dem Buch ausgelöst wird, bilden wir uns alle nicht ein.“
„Ohne Frage. Aber was können Sie über die Ursache des Unbehagens sagen? Ist es wirklich das Buch selber oder ist es das Verhalten des Mädchens? Und wir übertragen es unbewusst auf das Buch, weil es immer in der Nähe ist oder die Eltern diese Interpretation vorgelegt haben?“
Kattenstroth nickte langsam. Das war ein interessanter Gedanke. Das Mädchen war vollkommen normal gewesen, das hatte der Vater bestätigt. Und anfangs hatte sie nicht so heftig reagiert, wenn ihr jemand das Buch wegnahm, gab es sogar freiwillig aus der Hand. Vielleicht war das Buch nur ein zufälliges Objekt? Das gestörte Verhalten des Kindes könnte in der Tat ganz andere Ursachen haben und das Buch war einfach am falschen Ort zur falschen Zeit und wurde instrumentalisiert, sowohl vom Kind als auch von den Eltern.
Читать дальше