„Und dann haben Sie es einfach behalten?“
„Nein, ich weiß noch, dass ich es an den Absender zurück geschickt habe, aber es kam als unzustellbar zurück.“
Zweifelnd schaute Kattenstroth den Mann an.
„Ja, ich weiß, das klingt unglaubwürdig, aber genau so war es. Und da habe ich es einfach zu den anderen Büchern gestellt. Janice muss es da gefunden haben.“
„Und wer könnte es nun an sich gebracht haben?“
„Vielleicht eine ihrer Freundinnen? Sehen Sie, unsere Tochter geht seit letztem Sommer in den Kindergarten. Und wenn sie eine ihrer neuen Freundinnen besucht, dann wandern Dinge hin und her. Mal landet eines ihrer Kuscheltiere bei ihrer Freundin Michaela, dann finden wir bei Janice die Wachsmalkreide von Tini und so weiter. Aber Janice würde es nicht freiwillig dagelassen haben. Und zu den Eltern hinzugehen und danach zu fragen, das war mir ehrlich gesagt zu peinlich. Immerhin würde man den Mädchen damit ja Diebstahl unterstellen. Und streng genommen wäre es auch kleinlich, wegen eines Buches so einen Aufstand zu machen.“
Das Geschrei im ersten Stock schwoll ein wenig ab und ging in ein jammervolles Wimmern über. Fragend schaute Kattenstroth zu Dörmann.
„Sie ist erschöpft. Dann wimmert sie nur noch. Wir haben sogar schon den Notarzt zu Rate gezogen, aber der wollte ihr kein Beruhigungsmittel verabreichen. Er meinte, das würde sich schon geben, wenn sie erst mal müde wird und einschläft.“
„Und?“
„Sie schläft nicht ein. Zwar nickt sie kurz ein, aber nach ein paar Minuten ist sie wieder wach und das Geschrei geht von vorne los.“
„Sind Sie sicher, dass es mit dem verschwundenen Buch zu tun hat? Vielleicht ist sie einfach krank oder es tut ihr was weh?“
„Meinen Sie nicht, dass wir daran auch schon gedacht haben?“, fuhr Dörmann ihn an, hob dann aber entschuldigend die Hände.
„Tut mir leid, ich wollte Sie nicht anschreien. Aber Sie müssen verstehen, dass unsere Nerven wirklich blank liegen. Es ist so, dass wir natürlich schon vorher mal versucht haben, Janice das Buch wegzunehmen, wenn sie baden sollte oder beim Essen. Aber das Geschrei war jedes Mal dasselbe. Wenn sie gezwungen war, das Buch wegzulegen, musste es wenigstens in Sichtweite bleiben und niemand durfte es anfassen, sonst gab es auch wieder Geschrei.“
„Das klingt bedenklich, in der Tat. Haben Sie mal einen Psychologen hinzugezogen?“
„Wegen eines Buchs? Der hätte uns doch ausgelacht.“
„Ganz ehrlich, Herr Dörmann, mir ist gerade nicht nach Lachen zumute und ich wette, Ihren Nachbarn auch nicht.“
„Deshalb will ich Sie ja anheuern. Finden Sie dieses verdammte Buch, ich flehe Sie an.“
Kattenstroth seufzte schwer. „Also schön. Wann haben Sie es denn zum letzten Mal gesehen?“
„Am Karsamstag. Wir haben draußen im Garten gesessen. Janice hat auf der Wiese gelegen und in dem Buch geblättert. Meine Frau war kurz ins Haus gegangen und dann klingelte das Telefon. Da meine Frau offenbar nicht dran ging, bin ich selber ins Haus gegangen, um den Anruf entgegenzunehmen. Kurz darauf hörten wir von draußen unsere Tochter schreien. Wir sind natürlich sofort rausgerannt. Da stand sie vorne am Gartentor und schrie wie am Spieß.“
„Aber sie ist nicht rausgelaufen?“
„Sie kann das Tor nicht öffnen, wir haben eine Kindersicherung eingebaut. So kann sie im Garten spielen, ohne dass wir sie ständig im Auge behalten müssen.“
„Und war noch jemand in der Nähe?“
„Nein, ich habe niemanden gesehen.“
„Wie kommen Sie dann darauf, dass das Buch gestohlen wurde?“
„Wir haben den ganzen Garten und die Straße abgesucht, aber es nirgends gefunden. Und Janice würde sich freiwillig niemals davon trennen.“
Das Wimmern über ihnen schwoll wieder zu einem wütenden Brüllen an, verstummte dann kurz und wurde wieder zu einem Wimmern. Es klang geradezu unmenschlich. Dass ein vierjähriges Mädchen zu solchen Lauten fähig war, erschreckte Kattenstroth.
„Herr Dörmann, ich muss Ihnen ehrlich sagen, dass ich Ihnen wenig Hoffnung machen kann. Wenn das Buch nicht im Garten war, wo sollte es sonst sein? Oder anders gefragt, wer sollte ein Interesse haben, Ihrer Tochter ein Bilderbuch zu stehlen?“
„Das weiß ich nicht. Aber dieses Buch war von Anfang an irgendwie merkwürdig, ich sagte es ja schon. Ich hatte die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl.“
Kattenstroth fand das alles etwas vage, sagte aber nichts.
„Was für Bilder zeigt es denn überhaupt?“
„Tja, das ist nicht so leicht zu sagen. Ich habe es nur einmal durchgeblättert und dann nie wieder angeschaut. Es hatte so was …, so was …“ Er suchte händeringend nach Worten.
„Ja, was denn?“
„Etwas Unheiliges“, kam die Antwort von der Tür. Eine schmächtige Frau mit zerzaustem blondem Haar und tiefen Ringen unter den Augen stand da und starrte ihn mit beinahe leerem Blick an. Kattenstroth stand auf, reichte ihr die Hand und stellte sich vor.
„Lydia Dörmann. Danke, dass Sie gekommen sind. Hat mein Mann Ihnen schon das Problem geschildert? Nun, es ist ja nicht zu überhören“, seufzte sie und ließ sich auf den Sessel fallen, den Kattenstroth verlassen hatte. Von oben war noch immer leises Wimmern zu hören.
„Ich kann nicht mehr. Wir haben ihr Beruhigungsmittel in den Tee gerührt, aber sie trinkt ihn gar nicht erst. Wenn ich mit der Tasse komme, schlägt sie sie mir wütend aus der Hand. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll.“
„Wie ich schon Ihrem Mann sagte, sollten Sie einen Psychologen einschalten. Vielleicht kann man mit den richtigen Medikamenten zumindest dafür sorgen, dass das Kind mal schläft. Das kann ja auf Dauer nicht gesund sein, wenn Ihre Tochter sich so verausgabt.“ In Gedanken fügte er hinzu, dass auch alle anderen davon profitieren würden, aber er ging davon aus, dass die Dörmanns auf diesen Gedanken auch von allein kommen würden.
Er verfluchte im Stillen seine Schwester, die ihn gedrängt hatte, diesen Fall anzunehmen, wobei er immer noch nicht genau wusste, worin der Fall nun bestand.
„Also, werden Sie uns helfen?“, unterbrach Frau Dörmann seine Gedanken.
„Das würde ich wirklich gerne tun“, log er, „aber ich sehe nicht, was ich tun kann. Sind Sie sicher, dass das Buch nicht doch irgendwo hier im Haus oder im Garten ist?“
„Ich sagte doch schon, wir haben alles mehrmals abgesucht. Natürlich war das auch unser erster Gedanke. Aber die Tatsache, dass Janice draußen am Gartentor stand, lässt uns darauf schließen, dass es da irgendwie verschwunden sein muss.“
„Also, Sie meinen, jemand ist vorbeigekommen, in Ihren Garten gegangen und hat es Ihrer Tochter aus der Hand genommen?“
„So in etwa.“
„Ich frage nochmal: warum sollte jemand so etwas tun?“
Das Ehepaar Dörmann schaute ihn ratlos an.
„Na gut, nehmen wir an, Ihre Tochter hat das Buch mal einer Freundin gezeigt und die wollte das dann auch unbedingt haben. Und diese Freundin ist nun am letzten Samstag hier vorbeigekommen und hat es sich einfach geholt. Wäre das denkbar?“ Kattenstroth fand es schwer, sich in die Psyche von Vierjährigen zu versetzen.
„Schon, aber keine Vierjährige spaziert einfach so hier durch die Siedlung. Ihre Mutter wäre doch wohl dabei gewesen und hätte mit Sicherheit geklingelt und uns Bescheid gesagt.“
„Trotzdem ist das ein Anhaltspunkt. Ich bräuchte also die Namen und Adressen der Freundinnen Ihrer Tochter.“
„Gott, wie peinlich“, murmelte Herr Dörmann, aber seine Frau nickte energisch und nahm Papier und Kuli zur Hand.
„Und was sagt eigentlich Ihre Tochter zu der Sache? Wenn ihr jemand das Buch weggenommen hat, dann müsste sie die Person ja gesehen haben.“
Das Ehepaar Dörmann tauschte einen vielsagenden Blick.
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