Er tauscht einen langen, vielsagenden Blick mit Piper. Dann macht er einen Schritt durch das Gitter und verschwindet. Innerlich muss ich jubeln – endlich kommen wir hier weg!
Die Vampire gleichen den Menschen in nichts. Ich war dumm zu glauben, Joice würde Liebe fühlen – Liebe für mich! Doch die brauche ich nun nicht mehr. Ich bin mächtiger als alle Gefühle, die ein Mensch empfinden kann. Ich bin Wisdom, ein gefallener Engel. Vom Himmelsrand abgerutscht, hinunter in die Dunkelheit gestürzt und auf dem schmutzigen Boden hart aufgekommen.
Aber ich bin die Reinkarnation des Lebens selbst. Ich blühe vor Blut und Fleisch und Kraft. Ich werde nie wieder meinen Gefühlen verfallen. Mit aller Macht werde ich dagegen kämpfen, das habe ich nun begriffen. Doch seinen Plan verstehe ich noch immer nicht.
Er will nach Lamia reisen, sich durch den Dschungel schlagen und sich der Königin zu Füßen werfen. Aber wofür? Wohl kaum für eine Hand voll Lob und stolzer Worte! Ist sie es, die er will, ihr Blut vielleicht? Aber glaubt er denn, dass er das bekommen kann? Im Grunde ist es mir gleich, worauf er es abgesehen hat. Es gibt nichts, was diese Vampirin ihm bieten kann, was ich ihm nicht schon geboten habe. Ja irgendwann … vielleicht irgendwann … dann werde ich die Königin sein und über unsere eigene Nachkommenschaft herrschen.
Oh, wie ich sie hasse, diese Dämonin, die aus dem Paradies davonlief! Wie sie floh vor ihrem eigenen Stolz und der Schande, die sie selbst heraufbeschworen hatte. Auch mir ist es zuwider, mich unter einem anderen Wesen zu beugen, doch wegzulaufen ist erbärmlich. Sich im Wald zwischen Blättern und Steinen zu verstecken, auf dem Boden zu kriechen und sich im Schlamm zu vergraben – wie lächerlich ist das! Ich werde kämpfen.
Das ist es, weshalb ich ihn nicht verstehe. Er geht aufrecht durch die Jahrhunderte, als schriebe er die Geschichte. Er unterdrückt jedes lebende Wesen allein mit der Macht seiner Gedanken – auch mich hat er in seinen Bann gezogen. Und doch hat er eine einzelne Schwäche: Seine Gier nach mehr. Und die wird eines Tages sein Untergang sein. Wenn ich es zulasse, und das werde ich niemals. Ich muss ihm folgen und verhindern, dass er in sein eigenes Verderben läuft. Ihn vor dieser Königin beschützen, die Opfer von ihrem eigenen Volk verlangt. Ja, eines Tages … Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg.
Lilith. Die Nächtliche. Schrecken der Nacht und Tod in der Dunkelheit, wie sie genannt wird von ihren Anhängern und den sterblichen Menschen. Aber wir sind klüger. Ich werde es nicht so weit kommen lassen, dass sie auch über uns regiert. Eher würde ich sterben und der Unendlichkeit entsagen. Eher werde ich diese Königin vom Thron stoßen und an ihrer statt regieren. Das wird nicht leicht werden, doch ich habe schon anderes geschafft. Der Weg nach oben ist niemals leicht, aber ich kann alles erreichen, wenn ich es will. Ich bin ein Vampir.
Vom Portal aus gingen wir Richtung Süden. Joice überschritt die Schwelle am frühen Abend; es war gerade dunkel geworden. Ich schlug denselben Weg ein, den er genommen hatte, zusammen mit einer kleinen Meute Werwölfe und fünf oder sechs Vampiren, die mir gehorchen sollten. Der Hüter der Schwelle ließ uns mit dem Einhorn passieren. Einen halben Tag später, am frühen Morgen, kletterten wir triefend aus dem Tümpel heraus. Mir blieb nicht viel Zeit, ein Versteck für den Tag zu suchen, und so hielt ich mich zuerst nach Westen. Auf diese Weise konnte ich wenigstens noch eine halbe Stunde der Sonne davonlaufen.
Auf dem erstbesten Gutshof, der einsam in der Landschaft lag, kamen wir für den Tag unter. In der Hoffnung, Joice in der nächsten Nacht wieder aufzuspüren, kroch ich in der Scheune zwischen die Strohballen und legte mich nieder. Und da liege ich noch jetzt. Die primitiven Blutsauger habe ich nicht mehr gesehen, ich weiß nur, dass die Werwölfe sich um das Einhorn kümmern.
Mein Hund Swift liegt knurrend und mit glühenden Augen an meiner Seite. Ich fahre ihm grob über das feuchte Fell, um ihn zu beruhigen. Mit seinen blinden, leuchtenden Augen schaut er mich an. Er muss so etwas wie ein Zombie geworden sein, als die Wölfe ihn töteten, ein untoter Hund, doch kein Werwolf. Sein Fell ist zottig und verfilzt, sein Blick weiß und grausam und seine Schnauze triefend vor Geifer und stinkend von seinem fauligen Atem. Seine gelben Zähne sind messerscharf, und sein Fang packt schneller zu, als ein Mensch reagieren kann, und reißt tiefe Wunden in die Gliedmaßen seiner Opfer, die niemals verheilen, sondern eitern und sich immer weiter nach innen fressen. Man kann nichts dagegen tun. Und gerade das ist ja so amüsant. Ich kichere leise. So ist es mit allen übernatürlichen Mächten. Die Menschen sind völlig wehrlos. Und ich werde sie unterwerfen. Zusammen mit Joice. Das ist unsere Aufgabe. Doch zunächst muss ich ihn finden.
Gut gelaunt verlasse ich mein Versteck. Heute am Tag kam eine Magd, die mich weckte, als sie nach den Katzen rief, um ihnen Milch hinzustellen. Swift war augenblicklich in Bereitschaft, als er die Tiere roch und das Menschenfleisch. Doch wir mussten in der Dunkelheit verharren und auf diesen Moment warten. Jetzt werden wir sie uns holen.
Unbeholfen krieche ich aus dem Stroh hervor. Mein Hund folgt mir, wendig und auf leisen Sohlen. Noch immer sträubt er alarmiert das Fell. Er war es auch, der mich weckte. Vielleicht ist eine Katze über die Dielen geschlichen.
Ich richte mich auf und wische mir die Halme vom Kleid. Der Stoff ist zerknittert und eingerissen vom rauen Holzboden. Die Haut darunter ist längst verheilt und schimmert weiß durch die Risse, wenn ich mich bewege. Wahrscheinlich müssen Vampirinnen so aussehen. Ich zucke mit den Schultern, als ich merke, wie mein Hund mich mit schiefgelegtem Kopf mustert.
Wir verlassen die Scheune durch ein hohes Tor, das nach draußen und in die Nacht hineinführt. Auf dem Hof ist es still. Finster liegen die Gebäude vor mir. Doch kein Geräusch ist zu hören. Als wären alle Wesen dieser Nacht verstummt, da ich hinaus in das Mondlicht trat – seine Redeweise gewöhne ich mir auch schon an! Eine nahende Vampirin wittern die Gestalten des Lichts schon aus der Ferne und fliehen. Und auch die Kreaturen der Dunkelheit unterwerfen sich der Macht der Unsterblichkeit. Ich bin die Göttin der Nacht! Und Lilith kann mir gestohlen bleiben.
Festen Schrittes nähere ich mich dem Wohnhaus, doch dann überlege ich es mir anders und visiere das unscheinbare Seitenhaus an. Darin kommen die Bediensteten unter. Und um. Ich muss grinsen; mir kann niemand entfliehen. Der süße Duft von warmem Eisen steigt mir in die Nase: Blut, ich rieche es auf Meilen. Blut und Fleisch.
Von überall her, aus allen Winkeln und Ritzen des Bauernhofs, kommen Vampire und Werwölfe geschlichen. Die Tiere in den Ställen werden unruhig. Drachen fauchen alarmiert und kampflustig, Pferde tänzeln in ihren Ständern, und unzählige Ratten huschen durch das Stroh über den Hof, auf der Suche nach einem sicheren Platz. Aber den gibt es nicht mehr.
Im Zimmer des Bauern flammt eine Kerze auf. Die Vampire hinter mir halten inne und starren hinauf zum Fenster. Die Wölfe knurren und sträuben das Fell. Hinter der Tür ertönen Schritte.
„Wartet bei dem Einhorn!“, sage ich mit fester Stimme. „Und geht in Deckung! Er muss euch noch nicht finden. Ihr bekommt früh genug, was ihr wollt.“ Ich schleiche weiter auf das Seitenhaus zu. Zuerst werde ich mich bedienen, und dann werden sie kriegen, was ich ihnen übrig lasse.
Die Vampire rühren sich nicht sofort und stimmen einen trotzigen Ton an, der mir missfällt. Wütend schnelle ich herum und fauche sie an. „Verkriecht euch!“, warne ich sie und zeige meine Zähne. „Sonst wird es gar nichts für euch geben!“
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