Die halbe Strecke heulte ich, war mir egal. Beim Camp angekommen, wartete ich, bis ich unauffällig zum Wohnwagen gelangen konnte. Ich hatte einen Schlüssel, den ließ ich gleich stecken. Bis zur Straße war es ziemlich weit, ich trug den Zeltsack und meinen Rucksack, und ich musste wieder durch den Wald, denn ich wollte auf der Zufahrt zum Camp nicht gesehen werden. Ich wusste nicht, was mit mir los war, etwas war mir peinlich oder so, eigentlich hatte ich Angst, hier noch irgendjemandem zu begegnen. Dieser Scheißwald, ich wollte aus diesem Scheißwald raus. Als ich das endlich geschafft hatte, musste ich auf jedes Auto ein paar Minuten warten, es war diese kleine Straße durch den Wald. Der vierte stoppte. Ich trampte mindestens drei Stunden und bestimmt nicht den kürzesten Weg, bis ich beim Mediamarkt ankam. Das Ladegerät von ihrem Handy wird irgendwo im Camp sein, wo sie es immer auflud, dachte ich. Ich konnte es zwar auch ohne PIN in Betrieb nehmen, aber dann waren die Daten weg. Das Original hatten sie bestimmt nicht da, ich nahm so ein Universal-Ding vom Haken, als mir richtig in den Kopf knallte, dass ich doch auch ein Samsung Galaxie hatte, das gleiche Ladegerät! Ich fuhr dann mit dem Bus nach Hause, das war nicht mehr so weit.
Zuhause lud ich als erstes das Handy, legte mich mit meinem aufs Bett und antwortete sofort Vil und meiner Mutter. Ich hatte es schon im Wald ausgemacht und bis jetzt nicht wieder eingeschaltet, ich wollte niemanden in meinem Leben haben, wenn man das so sagen kann. Ich entschuldigte mich, hätte da plötzlich weg gemusst, nannte mich einen komischen Vogel. Vil schrieb ich noch (das war gemein, ich weiß, aber mit normalem Denken erreicht man da gar nichts), dass es Probleme mit dem Jugendamt gäbe, wenn sie jetzt schon schwanger würde – stimmte aber auch. Dann schlief ich auf der Stelle ein und dann wachte ich gleich wieder auf: In dem Traum sah ich sie natürlich von vorne, das will ich jetzt lieber nicht beschreiben. Außerdem sah sie mich an, entsetzt, als dürfte ich sie so nicht sehen. Das klingt nach einer Schnulze, aber so war es! Das Handy lud noch, ich setzte mich in die Küche und probierte von allem im Kühlschrank. Ich war schon satt, als ich mich für Vils indisches Tofu-Zeug aus dem Glas entschied. Jetzt nahm ich das Ding einfach vom Kabel und legte mich damit wieder aufs Bett. Sie hatte zuletzt mit P telefoniert. Das war über zwei Wochen her! Davor hatte sie sehr oft mit P telefoniert, aber auch mit A, E und Sara. Würde ich es machen, würde ich einen anrufen? … Irgendwie tickte ich nicht richtig! Jetzt ging das doch erstmal gar nicht! Wirklich wahr, das kapierte ich jetzt erst! Ich raffte nicht, was Sache war, meine Situation, meine ich. Dagegen musste ich sofort etwas tun! Vielleicht sollte ich mal mit jemandem sprechen, Philipp, mein Onkel, der verstand Gefühle. Nein, das würde ich jetzt nicht hinkriegen. Ich wusste ja schon mal sehr gut, dass ich jetzt keinen von denen anrufen konnte. Wenn ich nach allem da mal mit jemandem sprechen wollte, würde ich mir die Nachrichten angucken und dann entscheiden, wen ich anriefe, jetzt öffnete ich nichts. Ich legte das Ding weg, ich musste duschen. Ich nahm es wieder und schaute nach den Fotos … Das war jetzt ein Fehler. Es gab nur ein Foto! Sie hatte sich selbst aufgenommen, sowas ging ja fast immer daneben, bei ihr nicht! … Und es gab sie ja jetzt nicht mehr!! Eine Scheißwelt!! Aber ich freute mich über das Bild!! Warum freute ich mich denn über das Bild?! Wann war das? Datum … Gestern, 20.07 Uhr. Sie lag im Zelt, ich erkannte jetzt die Streifen der Isomatte neben ihrem Haar.
So eine Nacht wollte ich nicht nochmal erleben. Gegen Mittag brach ich schon wieder auf, zu Julius, meinem besten Freund, ohne Ankündigung. Raus wollte ich sowieso! Ich hatte gedacht, zuhause wäre zuhause, denkste. Da denkt man nämlich, es wäre das von vorher. Aber ich hatte alles dorthin mitgenommen, und zuhause war ich viel weniger davon abgelenkt als irgendwo, im Gegenteil, man ist dort sehr konzentriert, mir wurde erst alles richtig bewusst … Ich kam mir vor wie ein Mörder, ich fühlte mich so, irgendwie, ehrlich. Und wenn ich kein Mörder war, sie war ja trotzdem tot, so! Mausetot! Jetzt war der Tod in meinem Leben!
Julius lag im Garten rum, öffnete in der Badehose die Eingangspforte. Seine halblangen dunklen Haare lagen immer gut. Einen S-Klasse Typ nannte ihn Nicol, ein Schwarm von ihm, einmal beiläufig. Das hätte sie ihrer Freundin, aber nicht mir verraten sollen, ich hatte schon ein paar Komplexe. Er war barfuß und ging ein bisschen so, als wären die Steine zu heiß. Was denn los sei, gebe superleckeren Kuchen. Ja, klar könne ich bei ihm pennen, kriege auch ein Gästezimmer, sie hätten keinen Besuch. Was denn passiert sei.
„Deine Mutter?“, fragte er.
„Ach, meine Mutter, nein …“
„Hier, Pudding-Kuchen … Stell doch mal den Rucksack ab. Probier mal, ja? Ich bekam ein ziemlich großes Stück. War eben mein Freund.
„Jetzt sag schon“, sagte er.
„Ich will Arzt werden.“ Er grinste so komisch, das konnte er gut.
„O Mann, verstehe, das macht dich fertig“, sagte er, „du hältst dich für verrückt.“
„Nein, noch nicht mal“, sagte ich.
„Jetzt erzähl schon!“
Wenn man sich gut kennt, dauert sowas nicht lange. Ich erzählte ihm die Geschichte in höchstens zehn Minuten. Aber nichts von den Küssen und so, ich wollte auf keinen Fall die Beherrschung verlieren.
„Mann!“, sagte er. „Scheiße!“ Und nach einer kleinen Pause, ich stopfte Kuchen in mich rein: „… Till, bevor du jetzt Arzt wirst, lass uns schwimmen gehen oder Tennis spielen.“
„Da verlier ich doch immer.“
„Ich lass dich gewinnen.“
„Juli, ich brauche das jetzt, so eine Perspektive. Schwimmen oder Tennis spielen können wir aber außerdem.“
„So eine Perspektive … He, Medizin, Abi eins-zwei!“, sagte er.
„Ja, und? … Pauken, Juli.“
„Als letzter starten und gewinnen, das ist doch mal ein Plan!“, sagte er.
„Alexander will Astronaut werden, hast du schon gehört?“, sagte ich.
„Der meint das sogar ernst“, sagte er. „Ich sag das niemandem, das ist doch peinlich, auf so einer Schule sind wir.“
„Meinst du, ich packe das nicht?“
„Ja nicht, weil du zu doof bist. Ich denke, das hat sich bald wieder erledigt.“
„Wir sagen es sicherheitshalber niemandem“, sagte ich.
„Das wollte ich gerade vorschlagen“, sagte er.
„Ich muss jetzt dringend mit dem Rek sprechen, ich muss sofort wieder rein.“
„Der ist Montag bis Donnerstag nicht da.“
„Scheiße. Wer macht Vertretung?“
„Hab ich nicht gefragt, die Kupisch, hab ja keinen Unterricht bei ihm. Er war gestern Abend hier, Freitag, wie immer.“ Ja, der musizierte mit seinem Vater und noch wem.
„Bestimmt wieder die Kupisch, das kann ich vergessen.“
„Ich spreche mit ihr, wenn du willst, Montag, erste Pause. Mit mir kann die nicht sprechen, ohne zu lächeln – “, sagte er. „Wie ist das jetzt mit Vil und deiner Mutter?“
„Ich muss jetzt mal an mich denken. Es scheint ja auch funktioniert zu haben, es sieht jetzt besser aus, sollen sie mal was draus machen. Und Vil hat ja jetzt vielleicht sogar einen Freund, er ist ganz okay, hat ziemlich was drauf, und der sieht das nicht so eng, weißt du, sein Vater kifft auch.“
„Machen die was!? Sie nimmt doch noch keine Pille oder so.“
„Sie ist noch Jungfrau“, sagte ich.
„… Oder war“, sagte er.
„Ich hab sie gewarnt, zweimal, dreimal, ich sag’s noch mal meiner Mutter, vielleicht meinem Vater, mehr mach ich jetzt nicht! Ich will in die Schule, verstehst du, ich will jetzt wieder Schüler sein, nur noch Schule, Punkt!“ Juli schaute aus dem Fenster. Wahrscheinlich war ich irgendwie zu theatralisch, ich wusste nicht, was mit mir los war. Nach einem Moment sagte er: „Setz dich doch einfach rein, Englisch, zu Frau Krüger, da passiert nichts.“
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