„Ich sage Sophie Bescheid, wir hauen hier mal ab“, sagte er.
„Warum?“, fragte ich blöd.
„Weil du irgendwie zitterst, zum Beispiel.“ Er fühlte meine Stirn. „Und du hast was mit den Augen.“
„Ich warte hier, es geht schon wieder, schwimmt noch ein bisschen und so.“
Dann saßen wir aber doch im Auto, ich schämte mich schon fast, ging wirklich wieder, und Sophie war richtig besorgt, das machte es noch schlimmer.
„Wie fühlst du dich?“, fragte sie. „Du musst mal dein Blut untersuchen lassen.“
„Mein Blut? … Ich muss dringend mit meiner Mutter telefonieren!“, sagte ich in dem Moment, wo ich es wusste.
„Jetzt!?“, fragte sie.
„Ja, wenn’s geht!“ Sie stoppte auf der Stelle – abenteuerlich.
„Geht ganz schnell“, sagte ich.
„Hier kannst du nicht stehenbleiben!“, sagte Juli. „Da vorne, da ist so’n Weg!“ Sie fuhr wieder los, obwohl ich eigentlich schon am Aussteigen war.
„Wir fahren am besten ins Krankenhaus“, sagte Juli, „du kannst im Krankenhaus mit ihr telefonieren.“
„Wieso denn Krankenhaus, geht ganz schnell.“ Schon war ich draußen, wählte ihre Nummer und schritt den Feldweg hinunter. Sie war sofort dran, sie kiffte bestimmt nicht, hatte eine helle, wache Stimme: „Till!“ Sie machte sich wirklich Sorgen.
„Ich muss dir etwas Wichtiges sagen! … Mama!?“
„Ja, sag doch! Was ist passiert?“
„Also, die Jana … Ich war gestern im Wald und hab sie gesucht, weil ich vorgestern …“ Jetzt musste ich mich wirklich zusammennehmen, ich konnte eigentlich nicht darüber reden – ich kürzte ab: „Jana ist tot.“
„… Wo bist du?!“
„Du musst mir mal helfen!“
„Mann, ja! Wo bist du?!“
„Das ist doch jetzt nicht wichtig! Sie hat sich aufgehängt, sie ist dort im Wald, du musst es jemandem sagen! Kannst du es bitte denen da oder der Polizei mitteilen!? Es ist schon vorletzte Nacht passiert!“
„Ich mache das! Wo bist du!? Ich komme zu dir!“
„Nein, mach das erstmal! Ich sage dir den Weg, sie müssen zu Fuß gehen, es ist querfeldein.“ Sie sagte noch irgendwas, aber dann beschrieb ich, wo sie am besten in den Wald gehen mussten und so ungefähr die Richtung, und dass es bestimmt ein Kilometer ist.
„Hast du das!?“, fragte ich.
„Hab ich“, sagte sie. „Ich möchte dich sehen“, buchstabierte sie dann fast.
„Bitte bleib da, bis sie sie gefunden haben!“ Jetzt kamen wieder ein paar Tränen. „Ich bin mit Juli unterwegs, ruf mich an.“
„Dann bleib jetzt bitte mal erreichbar, versprich mir das!“
Ich war zwanzig Kilo leichter, als ich ins Auto stieg, nur die Tränen waren noch da, und die beiden guckten mich auch so an.
„Ja, dann ins Krankenhaus“, sagte ich und zuckte mit den Achseln. Juli stieg aus und kam zu mir nach hinten.
„Falls du kollabierst“, sagte er.
Im Krankenhaus war es netter, als ich gedacht hatte, trotzdem ich als erstes schon mal meine Karte nicht dabei hatte. Sophie verkürzte dann die Wartezeit: Ich fiele dauernd um, fast wenigstens! Sie war ziemlich aufgeregt, aber sie war eben auch so ein sehr zielorientierter Typ. Dem Arzt in der Aufnahme konnte ich wieder sagen, was passiert war, etwas trocken, innerlich unbeteiligt, so wie ich es Juli am Mittag gesagt hatte. Obwohl der mich gut verstand und genau wusste, was mit mir los war, da war ich mir sicher, bestellte er einen Psychiater. Auf den musste ich dann nochmal etwas warten. Kaum war er endlich da, nahm er mich mit auf die Station, weil es ihm in der Aufnahme zu unruhig war oder so. Dort musste ich nochmal erzählen, und das fiel mir wieder schwerer. Ich fand es auch komisch, dass ich es zweimal erzählen musste. Wie bei Juli tat ich so, als habe ich im Camp natürlich Bescheid gesagt, bevor ich abgehauen bin, das wollte ich nicht alles erklären – konnte ich auch nicht. Wenn die Polizei noch Fragen hätte, erklärte der Arzt, das sei Routine, man müsse alles mindestens zweimal erzählen (wie im Krankenhaus, dachte ich), werde er sie erstmal abwimmeln, morgen. Er würde mir gerne Diazepam geben, ob das okay sei. Sah ich so aus, als ob ich wüsste, was das ist? Ich solle auf jeden Fall bleiben, einfach mal ausruhen. Jetzt haben sie sie, dachte ich bei dem Gedanken an die Polizei. Juli und Sophie holten meinen Rucksack, wollten sie gerne, hätte auch bis morgen Zeit gehabt, und ich bekam ein Abendessen, zwanzig vor sechs. Sie nahmen mir noch Blut ab, dabei musste ich ziemlich direkt an Jana denken. Zum Glück fing mein Zimmernachbar an, so blödes Zeug zu reden, dass ich mich richtig aufregte, dagegen war ich nämlich allergisch. Sophie und Juli brachten Anton mit, klasse! Er wusste auch gleich, was jetzt in der Schule Stand der Dinge war (Juli war in der Parallelklasse). Das zu wissen tat mir komischerweise gut, was ich bald alles wissen musste. Und dann quatschten wir noch eine Stunde über alles, was uns einfiel. Das Diazepam war natürlich jetzt gut, kannte ich schon von einem aus der Schule, der es seinen Eltern klaute.
Meine Mutter rief um acht an, sie hätten sie gefunden, sei ganz schön was los hier. Sie brächen jetzt auf, ich solle bitte nach Hause kommen. Ich sei im Krankenhaus gelandet, sagte ich, gehe mir manchmal so komisch, würde auch gerne bleiben. Sie komme heute noch!, sagte sie. Ich solle sagen, dass sie heute noch komme! Ich wollte sie noch was zu Jana fragen, ich wusste nicht so richtig was, was sie mit ihr machen, wie sie aussieht … Mann! Gar nichts hab ich gefragt!
Wir trafen uns so um zehn auf dem Gang, wo ich, ehrlich gesagt, schon auf sie gewartet hatte. Sie kam schweigend mit großen Augen auf mich zu, als hätte ich eine schlimme Diagnose. Sie nahm mich in den Arm wie noch nie und drückte mich wie noch nie. In der Sitzecke erzählte ich ihr so viel ich konnte, sogar von Bilke, und dass Sophie jetzt Auto fährt und so, auch dass unser Kühlschrank so gut wie leer ist und das Abendessen hier ein Witz.
„Du warst verliebt“, stellte sie auf einmal ziemlich traurig fest.
„Ich b i n verliebt!“ … Das Diazepam. Obwohl ich lächelte, kullerten jetzt ein paar Tränen ihre Wangen hinunter. Gott! Das kannte ich bei ihr nur, wenn mein Vater ausrastete, sie heulte eigentlich nicht, wie Vil. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern und drückte sie an mich, das machte mich jetzt stark. Aber ich sagte dann vielleicht etwas Blödes (ich war einfach ein bisschen high): „Du, Jana sah dir ähnlich.“ Sie zog mit der rechten Hand einmal kräftig an meiner Jacke. Ich wollte lieber nichts mehr sagen, aber weil sie auch nichts sagte, fragte ich: „Wo ist Vil?“ Übrigens, ohne mich zu wundern, dass sie nicht mitgekommen war.
„Ja, zuhause … Sie hat das ziemlich mitgenommen, Roni und Sascha auch. Sie schlafen heute bei uns, Alina und Franziska sind auch noch gekommen, sie schlafen in ihrem Zimmer. Vil schläft in deinem Bett, Sascha im Zimmer von Oliver.“ Mein Vater, sein Arbeitsraum, da stand so ein aufklappbares Sofa. Wir hatten auch mal ein Gästezimmer, bevor er das „mal kurz“ für fünfzig Bücherkisten brauchte.
„Dann ist es doch gut, dass ich hier bin“, sagte ich, was nicht schwer zu verstehen war. „Ich könnte auch nicht mitten in der Nacht aufkreuzen, hier wird abends zugemacht, wie du ja eben gemerkt hast.“
„Ja, und wie, der Affe hat mich sogar warten lassen!“
„Zwanzig Uhr ist Einschluss“, sagte ich. Sie richtete sich auf und sah mich an.
„Wenn du gehen willst, gehst du, klar! Dann sagst du denen, dass du sofort gehen willst!“
„Ich halte das schon aus“, sagte ich.
„Nein, das hältst du nicht aus!“
„Ich bin noch nicht volljährig, dann musst du bestimmt nochmal kommen.“
„Ich kann auch gleich hierbleiben! Ich schlafe im Auto!“
„Das findet Roni bestimmt nicht so gut, wenn du nicht wiederkommst.“
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