Till Reichenbach, Leila Hill, Ines Kraft
Noplot
Die Macht der Freiheit
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Inhaltsverzeichnis
Titel Till Reichenbach, Leila Hill, Ines Kraft Noplot Die Macht der Freiheit Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
Meine Mutter war schon immer von einer speziellen Sorte, und irgendwann war es so speziell geworden, dass sie die Verbindung mit der Normalität, in der w i r leben mussten, irgendwie verloren hatte. Sie stand eigentlich nicht mehr zur Verfügung. Das war dann alles ziemlich kompliziert, logisch. Und dann war auch noch mein Vater abgehauen, weil er es mit ihr nicht mehr aushielt. Er hänge sehr an uns, an Vil, Viola, meiner Schwester, und mir, sagte er, auch an Maria, meiner Mutter, natürlich. Wir merkten das aber nicht so direkt, weil er so wenig Zeit hatte, was aber irgendwie auch stimmte, er war also eigentlich weg, genauso wie meine Mutter, und ich war, ehrlich gesagt, im Dauerstress. Aber das hatte eigentlich nichts damit zu tun, dass e r weg war, eher im Gegenteil, er machte hier alles nur noch komplizierter. Meine Schwester ist drei Jahre jünger als ich, sie war gerade vierzehn und sehr anstrengend. Wir, Vil und ich, ich heiße Till, Tillmann, bildeten einen Pool, eine Plattform, auf der wir ohne unsere Mutter auskamen. Nachdem sie dann auch noch deutlich mehr kiffte als normal, ging sie uns richtig auf die Nerven. Das wirke gut gegen ihre eingebildeten Schmerzen, sagte sie. Gut, von mir aus, aber es wirkte eben nicht nur so.
Seit ich von der Schule geflogen war, war ich hier also der Super-Bruder: Mama und Papa, Haushälterin, Seelsorger und Komplize, und meine Schwester war wie gesagt nicht ganz unbescheiden. Ich mag sie sehr, ich machte das ja alles total gerne, aber irgendwann, ich hatte so ein ungutes Gefühl, musste ich mal wieder zur Schule gehen, und ich wusste nicht, wie ich das unter diesen Umständen machen sollte. Sie hatten mich wegen der Kifferei auf dem Schulgelände gefeuert – ich meine, das heißt, ich wäre schon längst wieder drin gewesen, aber ich war hier unabkömmlich. Vil brauchte mich, sie nahm mich ganz in Beschlag, besonders weil wir nach außen den Schein wahren mussten wegen dem Jugendamt, die waren nämlich schon mal da gewesen – irgendein Arsch musste da was erzählt haben. Vil wollte auf keinen Fall in dieses Internat! Sie wusste, dass ihr Vater sie lieber in dieser geleckten Privatschule sehen würde, weil sie ein schlechter Einfluss sei, unsere Mutter, die allen, a l l e n Familienfragen gegenüber praktisch eine komplette Begriffsstutzigkeit entwickelt hatte. Also brüllten wir sie manchmal sogar an, dass eben n i c h t alles in Ordnung sei und dass sie mitspielen müsse! Zum Beispiel mit einigermaßen klarer Birne nach draußen gehen und sich normal anziehen (sogar darum musste ich mich manchmal kümmern). Vil meinte, jetzt auch selbst immer besonders positiv auffallen zu müssen. Sie machte das perfekt, schon übertrieben, die Supershow. Sie war nicht nur i m m e r pünktlich, eher zu früh in der Schule, sie fehlte auch nicht, als sie 38,4 Fieber oder morgens noch gekotzt hatte, das heißt, keine einzige Stunde, produzierte Einsen wie ein Alien und beteiligte sich an allem Singsang, der freiwillig war. Sie ging sich manchmal während des Unterrichts die Haare kämmen, also nicht etwa zum Pinkeln. Ihre Haare waren klasse, voll und glatt, fast schwarz, sie reichten nicht ganz bis zur Schulter. Aber sie sah wirklich nicht ungepflegt aus, wenn die mal durch den Wind waren. Sie sah überhaupt so gut aus mit ihren großen dunklen Augen, dass ihr alle immer nur ins Gesicht glotzten, fassungslos. Ich übrigens auch. Was mich ungemein anstrengte, war diese überschüssige Energie, diese Unruhe, die entstand, wenn sie die normalsten Dinge mit so viel, ich meine, zu viel, Leidenschaft machte. Das hat sie auch von ihrem Vater (ich gehe mehr nach meiner Mutter), der ist nämlich Verleger. Ich finde die Bücher eher langweilig, nicht alle, aber fast alle.
Vil wich mir nicht von der Seite, auch wenn sie in der Schule war. Alle zwei Stunden bekam ich eine Message, manchmal stündlich, und oft verwickelte sie mich in irgendwelche nicht unaufschiebbaren Dialoge. Okay, sie hatte Angst, dass ich zum Rek gehen könnte und hiernach wieder in die Schule. Das machte sie blind dafür, dass ich das eigentlich tun musste. Sie wusste, dass ich dann wenig Zeit hatte und wenig zuhause war, und sah sich hier zu viel allein mit ihrer Mutter und darum bald im Internat, als würde meine dauernde Anwesenheit sie davor bewahren. (Wenn das Jugendamt wüsste, dass ich darum nicht zum Rek gehe, wäre sie da eher noch schneller drin.) Ihre Nachrichten beanspruchten mich nicht so, dass ich deswegen nicht zur Schule gehen könnte, auch wenn ich etwas antworten musste (sonst beschwerte sie sich). Die Gedanken über alles, die ich mir in der Schule immer selber machte, lenkten mich sogar mehr ab als Mitteilungen wie: Der Fichte ist ein schlechter Lehrer, den versteht keiner. Das sieht man genau, wenn man es schon zuhause gelernt hat. Antwort: Wenn du das schon kannst, sieht es nur so aus. Bring wieder Döner mit. Sie: Kannst du nochmal die Pfannkuchen machen? Ich: Ja, bring mir zwei Döner mit. Oder: Kann ich am Samstag bei Alina schlafen? Du willst bestimmt sowieso wieder weggehen. Ich: Sie kann auch hier schlafen, Mama ist am Wochenende nicht da. Was ist das Wichtigste von der Wäsche, es passt nicht alles in die Maschine. Anders als mir war Vil ihre Mutter peinlich, nicht erst, als sie abgestürzt ist und das mit dem Amt losging. Ich fand sie zuerst sogar cool, so als ob man einen Punk zur Mutter hat. Ich hab fast ein bisschen mit ihr angegeben, ich stellte sie gerne meinen Freunden vor. Sie machte immer so coole Bemerkungen oder stellte so witzige Fragen, die uns ganz ernst nahmen wie Erwachsene. Wenn ich mit ihr allein war, war das für mich normal, aber mit Freunden zusammen fiel mir auf, dass das was Besonderes war. Erst als sie sich ausgeklinkt hat und immer mehr kiffte, konnte ich das vergessen, und die ganzen Probleme hier fingen an.
Dann passierte etwas. Ich wagte einmal einen richtigen Vorstoß. Das begann so: Es war an einem Mittwoch gegen Mittag, Vil hatte gerade geschrieben, dass sie eben Janin belügen musste (sie brachte keine Freundin mehr mit nach Hause, wenn die „Vogelscheuche“ da war) und ihr jetzt übel sei, als es an der Tür klingelte. Ich öffnete. Da stand Toni, der Dealer von meiner Mutter, mit seiner Wollmütze und seinem Grinsen. Ich bat ihn in die Küche, ich wollte nicht, dass er wieder zwei Stunden bei ihr sitzt und sie den Stoff „probieren“.
„Wie viel?“, fragte ich.
„Sie muss es probieren“, sagte er grinsend, „es ist viel.“ Er zeigte mir das kleine Päckchen.
„Nein, dein Zeug ist gut“, sagte ich. „Ich hol das Geld. Wie viel?“
„Einen Riesen“, sagte er, als wenn ich einen Fehler machte.
„Warte hier, setz dich ruhig.“ Er tat es, und ich ging ins Wohnzimmer zu dem kleinen Tresor im Schrank, dessen Schlüssel neuerdings immer steckte. Davor hatte man ihn aus der kleinen Standuhr daneben rausfummeln müssen. Ich nahm einen Packen Geld von einem Packen Geld.
„Du klaust dir Geld“, sagte meine Mutter, die auf dem Sofa lag und zusah.
„Ich dachte, du merkst es nicht“, sagte ich auf dem Rückweg.
„Ja, Pech“, sagte sie. Vor zehn Minuten war sie noch ohnmächtig.
Ich setzte mich zu Toni an den Tisch, auf dem das kleine Päckchen schon lag wie eine Schokoladenprobe, und zählte die Scheine. Ich schob ihm tausend hin und den Rest zur Seite.
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