„Bitte!“, sagte ich wirklich bittend.
„Was – “, sagte sie, sie schien damit etwas festzustellen. Nach einem Moment stand sie auf.
„Mann, das ist doch verrückt!“, sagte sie auf dem halben Weg zur Tür, blieb nochmal stehen und sah mich an, meinen Gesichtsausdruck, der mich anstrengte. Dann ging sie, ein bisschen genervt, aber egal. Sie klopfte an ihrem Zimmer, sie wusste, dass sie jetzt darin war.
„Vielleicht machen wir es doch einfach“, hörte ich sie sagen.
Ich war high! Mein Gefühl sagte mir, dass sich jetzt was ändert, und ich konnte noch gar nicht begreifen, dass i c h das bewirkt hatte. Leider war Vil jetzt erstmal im Stress wegen der Schule: Hätte sie einen Unfall gehabt oder einer wäre gestorben, aber so mir nichts dir nichts. Wenn das nur nicht immer so am Thema vorbeiginge, wir gingen eigentlich Tag für Tag nur noch am Thema vorbei. Alles drehte sich darum, dieses Internat zu vermeiden, indem sie ihre Supershow abzog, damit es so aussah, als gäbe es zuhause keine großen Probleme – und darum, zuhause t r o t z der großen Probleme klarzukommen. Dabei half ich ihr, weil ich ihr gerne half, nicht weil ich es für das Beste hielt, w e n n ich mal darüber nachdachte, so wie jetzt, als ich es auf einmal so sah, dass sie sich mit ihrer Schufterei ja immer mehr für dieses Internat qualifizierte, zu dem es für ihren Vater keine Alternative gab (da waren ihm ihre Einsen ein bisschen über den Kopf gestiegen), ich meine, wäre sie nur mittelmäßig, wäre der Schulwechsel ja sowieso kein Thema. Vielleicht wäre das Thema dann von Anfang an das eigentliche große Problem hier gewesen, um das es jetzt endlich einmal ging und das sich in Luft auflösen würde, wenn unsere Mutter nicht mehr so bescheuert viel kiffte und Vil nicht so piefige Vorstellungen davon hätte, wie ihre Mama zu sein hat. Mit dem ganzen Zeug quatschte ich Vil ein paar Minuten lang voll, aber das war heute dann doch zu viel, sie schaltete zwar alles, aber schaltete irgendwie hin und her, und es blieb darum erstmal bei ihrer aus drei Meter Entfernung spürbaren Sorge, die einem die Lust auf die Reise ziemlich vermiesen konnte. Ich wäre ihr für den Rest des Tages aus dem Weg gegangen, wenn sie nicht gleichzeitig auch die ganze Zeit so feierlich gewesen wäre und jede Tätigkeit wie die Vorbereitung auf ein bedeutendes Ereignis erschien. Sie lernte natürlich im Voraus, sie könne sich sonst nicht fallen lassen – fallen lassen. Sie lernte aber normalerweise immer im Voraus, was ihr übrigens nicht schwer fiel, sie konnte bis zu vier Dinge auf einmal tun, bei schwierigen Sachen nur zwei oder drei, also für zwei bis drei Fächer gleichzeitig lernen und zeichnen am Rechner (tat sie gerne) oder was umräumen (tat sie oft) und dabei für bis zu drei Fächer lernen. Mir zuhören oder telefonieren, dabei konnte sie aber nur noch eine andere Sache machen. Und weil sie jetzt zwei Fächer im Voraus lernte und gleichzeitig stundenlang ihr Gepäck erwog, oder gehetzt dringende Antworten in ihr iPhone tippte, hatte ich sie mit meinem Gequassel von der Lösung des eigentlichen Problems nicht auch noch begeistern können.
Es gab dann sogar mehr als eine „Überraschung“, aber erstmal nur die, dass es an dem Tag keine mehr gab, es schien sogar manchmal, als wäre hier alles normal, Vil ackerte, unsere Mutter guckte einen Film oder telefonierte, ich las oder telefonierte, kümmerte mich später um einen Berg Wäsche, machte Vils „kalte Platte“ und hiernach die Küche picobello. Nur, was vielleicht niemandem aufgefallen wäre, die beiden gingen sich so schön unauffällig aus dem Weg. Vil hatte eine große Reisetasche vollgekriegt, perfekt, für drei, vier Tage. Und zwar nicht wegen einer Menge Schulzeug, das sie aber außerdem schwer machte, sie schien auf jede Eventualität vorbereitet zu sein. Sie wisse ja nicht, was wir machen würden, sie wolle es auch gar nicht wissen, sie habe absolut keine Lust, wieder alles auszupacken. Wenn ich es inzwischen wüsste, solle ich es ihr nur sagen, wenn ich glaube, dass sie es besser wissen sollte.
Ich trug diese Tasche, als wir am nächsten Morgen aufbrachen. Doch nicht weit, nicht bis zu Mutters klapperigem Porsche-Jeep, der seit einer Woche zweihundert Meter entfernt in eine Einfahrt ragte. Als wir aus dem Haus traten, parkte direkt vor uns in zweiter Reihe ein goldener Ford Mondeo, Baujahr vor meiner Zeit. „Hallo!“, sang der Typ fast, dessen Name mir jetzt nicht gleich einfiel. Sein Arm lehnte aus dem Fenster, er winkte mit der Rechten. Dieser Mensch war nun aber für Vil tabu, seit er das erste Mal aufgetaucht war. Er sehe aus wie ein Gammler mit seiner ungepflegten Mähne, und außerdem sei er ein Säufer, weil er so eine Stimme habe, und bestimmt kein Musiker, wie ihre Mutter behaupte, nur ein Kiffer und Säufer und Angeber, der seine Frau schlage, wenn er breit sei. Ja, würde man von Vil nicht denken, aber konnte sie schon mal. Es stieg jemand auf der Beifahrerseite aus, ein junger Typ mit einer schwarzen Sonnenbrille und schicken, dunklen Haaren, die ein paar Zentimeter über die Ohren reichten. „Hi“, sagte er nicht gerade gut gelaunt und setzte sich irgendwie nach einer einzigen Drehbewegung, einschließlich Türen auf und zu machen, nach hinten. „Das ist Sascha, mein Sohn. Er hat keinen Bock“, sagte Roni, dessen Name mir jetzt wieder einfiel. Vil stand wie angewurzelt. „Worauf hat er keinen Bock?“, fragte ich. „Er hat eigentlich keine Zeit, er hat nie Zeit“, sagte er. Unsere Mutter ging zur Heckklappe, öffnete sie und warf ihre kleine Tasche hinein. Sie sah uns an und wartete. „Warum fahren wir nicht in d e i n e m Auto, dann haben wir mehr Platz?“, fragte Vil (eigentlich war das natürlich keine Frage, sondern eine Bitte). „Du kannst vorne sitzen“, antwortete sie. Ein paar Sekunden später flog mein Rucksack hinterher, es sah aus wie: Tolle Idee! Sie wusste nicht, was in meinem Rucksack war, ihre Tasche ließ ich trotzdem nicht fliegen, da war ihr Rechner drin. Sie stieg hinten ein, ich folgte sofort, denn meine Mutter könnte mir zuvorkommen und das riskieren. Die Piraten saßen dann also vorne, ihre Beute im Rückspiegel, wann sie wollten, das war genau das Bild, das ich da hatte. Ich saß hinter Roni, Vil in der Mitte, dieser Sascha sah erstmal nur aus dem Fenster. Er schien jünger als ich, aber deutlich älter als Vil. Die Entführer verstellten sich garantiert, denn sie sagten so langweiliges Zeug wie: „Gut, dass das geklappt hat!“ „Ja, jetzt hat es sogar was Gutes, dass der Termin geplatzt ist.“ Ich wollte gar nicht darüber nachdenken, was ich denken würde, wenn sie keine Piraten wären und sich nicht nur blöd stellten – arrogant, wie ich manchmal war. Es gab eine Bonny, Anna Bonny, ich hatte gestern Abend im Internet nachgesehen, eine berühmte Piratin. Meine Bonny hier sah sich jetzt um, sah jeden Gefangenen einmal kurz an, dann wieder nach vorne und sagte: „Witzig.“ Roni lachte. „Was ist witzig?“, fragte ich. „Dass wir so schöne Kinder haben“, sagte sie. „Was ist denn daran witzig? Wohin fahren wir?“, fragte Vil. „Nicht weit“, sagte sie, als wollte sie ihr alle Bedenken nehmen. „Es wird dir gefallen“, sagte Roni, „es gefällt jedem, sogar Sascha, eigentlich.“ Das schien der jetzt nur zur Kenntnis zu nehmen. „He, Sascha! Was ist los? Sag mal was!“, sagte Bonny. Er ließ einmal träge von seinen Geländestudien ab. „Was?“, sagte er ziemlich verschlafen. „Schlitzohr“, sagte Bonny. Ich war jetzt in einem Film. Und ich hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, etwas zu rauchen. Das ging nicht wegen Vil, Sascha wäre mir egal.
„He“, flüsterte ich Vil ins Ohr.
„Ja!?“, flüsterte sie zurück.
„Wenn ich jetzt nicht was rauche, überlebe ich es nicht.“
„Dann qualmen alle gleich!!“, flüsterte sie.
„Sag ihnen, das geht nicht, Punkt.“
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