„Natürlich nicht!“, sagte er. „Hat sie dich geküsst?“
„Auf den Mund, vier Mal!“, sagte ich. Das war das Bier, Bier vertrug ich schlecht.
„Das ist schön“, sagte er komischerweise. „Du bist ja auch ein besonderer Fall, mit dir geht sie hier an der Hand wie mit ihrem Boyfriend.“
Bevor ich auf Wein umsteigen konnte, musste mir Roni unbedingt mein Bett in dem Wohnwagen zeigen, in dem wir alle schlafen würden. Vil und Sascha waren auch dabei. Es gab zwei Doppelbetten und ein einzelnes zu besichtigen. Vil und ich sollten uns eines teilen, Roni wollte sich eins mit meiner Mutter teilen. Das kam nicht in Frage! Ich protestierte (auch das Bier): Vil schlafe natürlich bei ihrer Mutter, Sascha bei ihm, Roni. Was denn mit mir los sei, fragte Vil, irgendwas stimme doch nicht. Warum ich nicht mit ihr in einem Bett schlafen wolle, ich könne doch mit ihr in einem Bett schlafen. „Dann muss Sascha bei Mama schlafen“, sagte ich. „… Ach so“, sagte sie und fragte Sascha: „Kannst du bei meiner Mutter schlafen?“ „Nö“, sagte er. „D u schläfst bei Mama, es ist deine Mutter!“, sagte ich. „Befehlen lasse ich mir das nicht!“, sagte sie. „Ich würde dich auch darum bitten!“ sagte ich. „Gut, von mir aus. Wir müssen Mama noch fragen.“ „Wonach? Ob ihre Tochter bei ihr schlafen kann!?“ „… Wegen Roni“, sagte sie. „Ihre Meinung dazu interessiert mich nicht!“, sagte ich. „Ihr könnt auch einfach machen, was ihr wollt, und ich lege mich ins Auto!“ „Schon gut, Till“, sagte Roni, „Sascha und ich, Maria und Vil.“
Den Wein trank ich schließlich in dem Wohnwagen, und ich lag schon im Bett, als die anderen kamen. Bis auf Sascha schnarchten dann alle. Das ist noch ätzender, wenn man wegen irgendwas nicht schlafen kann. Ich wurde schon wieder wach, als meine Mutter aufs Klo ging, und als sie zurück ins Bett kroch, tuschelten und kicherten die beiden … Vil und ihre Mutter! Das tat gut, eine Wonne, sie so zu hören. Ich schlief wieder ein und dann bis zum Mittag. Ich war allein, sehr gut, trank eine große Tasse Kaffee und suchte hiernach sofort nach Jana, unauffällig, aber ausschließlich, bestimmt eine halbe Stunde. Ich fand sie nicht. Es war wieder geklaut worden, bei einem fehlte eine Flasche Sekt, die draußen mit einer weiteren in einer Kiste gestanden hatte, bei einem anderen die Kabelrolle, die hier aber schon zweimal verschwunden und wieder aufgetaucht war. Bevor ich in den Wald ging, traf ich Vil und Sascha. Sie gingen wieder Hand in Hand! Da rutschte es mir einfach raus: „Es wäre übrigens gut, wenn du davon nicht schwanger wirst.“ Vil sah mich eine Sekunde mit ihren größten Augen an und fiel dann wieder in Ohnmacht. Sascha stürzte sich sofort auf sie: „Liebling! Mein Liebling!“ „Idioten“, brummte ich und ging weiter. Sie hatte schon lange ihre Periode, die letzte vor ungefähr zehn Tagen, aber ich wusste das ehrlich gesagt nicht so genau mit den Zeiten, meine Ex verhütete schon. Sascha hatte es drauf, aber das hilft ja dann auch nicht so viel, und Kondome hatte er wahrscheinlich nicht dabei. Wenn sie nur insgeheim von ihm entjungfert werden wollte, das stellte ich mir so ab einem bestimmten Punkt nicht mehr nur theoretisch und dann auch nicht mehr so kontrolliert vor.
Ich ging in den Wald, als ich sicher war, dass es keiner sah. Einem Mädchen hinterherzulaufen, war mir peinlich wie jedem anderen, weil ich ein Idiot war wie jeder andere. Ich wusste eigentlich nicht mehr, wo die Stelle war, an der sie auf mich gewartet hatte. Also, so ungefähr war die Richtung natürlich noch da, die ging ich, wieder im Zickzack. Es war stressig, gruselig, ich fühlte mich die ganze Zeit beobachtet, hinter jedem Baum und Strauch rechnete ich mit ihr. Und es dauerte ziemlich lange, es war wirklich einen Kilometer vom Camp entfernt, als ich sie sah, schon bevor ich das Zelt sehen konnte: Sie hing in der Luft, sie hing an einem Ast. Sie hatte sich aufgehängt!! Ich sah weg, nach rechts, ein kleiner Baum war dort nachgewachsen, ich schätzte oder entschied, es war eine Buche, nur halb so groß wie ich und ganz symmetrisch geformt. Ich sah wieder hin. Ich kann mich jetzt, glaube ich, nicht richtig beschreiben, so etwas hatte ich noch nie erlebt, noch nicht mal einen schweren Unfall oder so. Jedenfalls fing ich schrecklich zu zittern an, drehte mich herum und ging schlotternd so zehn Meter zurück. Ich rang wirklich um Beherrschung, ich musste mich setzen, da fing ich dann so heftig zu schluchzen an, bis ich endlich heulte. Aber dann fiel mir plötzlich ein, dass sie manchmal nicht tot sind! Ich raste hin. Ich sah sie von hinten und ich wusste, dass ich nicht herumgehen würde. Sie war barfuß, ich gab mir einen Ruck, griff einen Fuß, ich zitterte. Er war ziemlich kühl. Ich suchte nach dem Puls neben dem Knöchel, ich fühlte und fühlte, bis ich mir eingestand, dass ich nicht genau wusste, ob ich das dort richtig machte. Einige Meter entfernt, neben ihrem kleinen Zelt, stand ein Campingstuhl. Mit dem kam ich an ihr Handgelenk, auch das war eigentlich kalt, und ich war mir jetzt sicher, als ich vergebens nach ihrem Puls tastete und wollte trotzdem nicht damit aufhören. Ich fühlte mich hier plötzlich allein – und wie! Aber dann war sie wieder da, aber gleich wieder nicht, wieder da und wieder nicht, sie kam immer wieder, bis ich mich erinnerte, wie warm ihre Hand gestern gewesen war … Ich sprang vom Stuhl. Ich konnte sie nicht von vorne ansehen, dafür schämte ich mich und ging stattdessen hastig ein paar Schritte hin und her. Ein allerletzter Versuch, wie eine unsinnige Pflicht, ich schrie einmal ihren Namen, nein, nicht gleich, erst sagte ich ihn zweimal laut (irgendwie drohend, bemerkte ich später). Und ich hatte genau hingesehen, nicht die geringste Regung. Ich stellte den Stuhl an seinen Platz zurück und setzte mich darauf. Das war so etwas Endgültiges, sowas Absolutes, das wollte nicht in meinen Kopf, irgendwie blieb es eine Ahnung – aber die genügte, wirklich! Die Kabelrolle stand am Boden, direkt unter ihr. Es war nicht mehr abgewickelt als nötig, obwohl das nicht so wenig war, der Stecker baumelte bei ihren Beinen, und sie war mit dem den Baum rauf auf den Ast geklettert, hatte das Kabel einige Male darumgelegt und dann die nötige Länge heraufgezogen und die Schlinge, die die Dicke mehrerer Kabel hatte, so einen Meter hinter (also besser unter) dem Ast gemacht. Neben dem Stamm der großen Birke stand die Sektflasche. Es war nur noch ein Viertel drin. Sie hatte sich übrigens in die Hose gemacht, man konnte nichts mehr sehen, aber ich hatte es gerochen. Ich dachte an ihre Kraft, nicht mit uns zu sprechen, und dann an ihre Stimme. Ich holte die Flasche, guckte nicht, was darin so schwamm, und trank einen Schluck. Ich war irgendwie ganz irritiert, er schmeckte noch so frisch, mit Kohlensäure und allem. Ich fing wieder an zu heulen. Irgendwann packte ich im Zelt alles zusammen, was mir gefiel, zum Beispiel viele kleine Buntstiftbilder, eine Schachtel mit Resten von den Stiften und ein Tagebuch, schätzte ich, ich konnte jetzt nicht lesen, eine Bürste mit ihren Haaren drin, ein Rest Sonnencreme, die sehr gut roch, sogar ein T-Shirt und ein Unterhemd, in das ich die Pfeife wickelte. Ich stopfte alles in einen Nylonsack, in den, das Bild war darauf, das Zelt gehörte. Eine graue Hose, obwohl schön gefaltet, passte am Ende nicht mehr rein. Den Umschlag mit dem Geld (nur so 80 Euro) und den zwei Schlüsseln ließ ich liegen. Aber nicht das Handy, mit dem ich hier gar nicht gerechnet hatte und das ich im letzten Moment zwischen der Zeltwand und der Isomatte fand. Ein Samsung Galaxy, hatte ich auch. Es war eingeschaltet, keine Sperrung (würde ich nie machen), Akku halb voll, wichtig, denn ich fand das Ladegerät nicht. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich keinen Abschiedsbrief gesehen hatte, aber dass ich auch mit keinem gerechnet hatte. Mit dem Sack an der Schulter, er hatte so Schnüre, stampfte ich dann einfach los, nur noch ein Blick hinauf zu ihren schönen blonden Haaren. Nach einigen Metern stoppte ich, ging ohne sie noch einmal anzusehen, zu ihr zurück, küsste ihren Knöchel ganz fest und drückte ihn dann fest an meine Wange und wünschte irgendwie, sie könnte es sehen, von dort, wo sie jetzt vielleicht war.
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