Von den Ställen gab es gleich mehrere, also vermochte man hier eine größere Zahl von Pferden unterzubringen. Ludwig wollte die Tiere zunächst durchzählen, ließ das dann aber sein. Er konnte sich die Kapazität ja sagen lassen; das ging schneller. Außerdem lenkte ihn das Nachzählen zu sehr ab und er verpasste womöglich ein wichtiges Detail. Heute fühlte er sich noch frisch und noch nicht betriebsblind. Also lohnte es sich jetzt besonders, die Augen offenzuhalten.
Zwischen den Ställen hatte man jeweils ein Streifen Platz gelassen, der als Weg diente. Über den kamen die Tiere von ihren Boxen zur Weide und von dort wieder zurück. Diese Mini-Straßen besaßen immerhin eine solche Breite, dass ein Traktor bequem darauf fahren und Pferden auszuweichen vermochten. Somit konnte Futter schnell an- und Mist zügig abtransportiert werden. Vier Ställe gab es, also drei Wege dazwischen. Der mittlere war der breiteste davon. An seinem einen Ende prangte auch die größte Reithalle, die an anderen Stellen auf dem Gelände noch zwei kleine Geschwister hatte. Hier konnte der Reiter dann auch bei schlechtem Wetter seinem Hobby frönen.
Die Anlage hatte insgesamt einen industriellen Anstrich. Alles machte einen durchdachten Eindruck. Alles stand an seinem Platz. Ein Rädchen griff in das andere.
Gleich neben der großen Halle lagen die Reitplätze. Sie waren noch etwas ausladender als die Halle und für das Reitvergnügen bei gutem Wetter da. Diese Reitparcours lagen in der Nähe des Eingangs der Ranch, der Hauptzufahrt. Somit konnten Besucher die Objekte ihrer Begierde, die Pferde, gleich in Action sehen.
Ludwig hatte den Eingang flüchtig beim Einfahren in die Ranch wahrgenommen. Er wollte sich das später nochmals genauer ansehen, von wegen Absicherung und so weiter.
Zunächst wandte er sich aber dem anderen Ende der „Hauptstraße“ zu. Hier erstreckten sich die Weiden und nicht nur rein zufällig ging es hier ruhiger zu. Wie ein Arbeiter nach einem anstrengenden Tag im Büro oder an der Taktstraße den Ausgleich und die Stille brauchte, so sollte das auch den Tieren möglich gemacht werden. Fernab vom Zirkus des Reitens auf dem Platz oder in der Halle, über Hindernisse oder an der Longe konnten sie hier die Pferdeseele baumeln lassen.
Das Gelände war weitläufig, aber eingegrenzt; es gab überall Zäune. Und am Tor zur Weide prangte eine Überwachungskamera an einem Mast und nahm die Szenerie fest im Blick. Hatten die Ausläufe auch Tore an ihren hinteren Begrenzungen? Konnten Pferde dadurch heimlich abgezogen werden? Ludwig legte Gründlichkeit an den Tag, also machte er sich auf die Pirsch um die Weiden herum, um es herauszufinden. Gut, dass er heute gleich die Gummistiefel angezogen hatte. Mit denen blieb er geländegängig und konnte auch unwegsames Terrain unter die Lupe nehmen.
Nach einigen hundert Metern Entdeckungstour wurde klar: Ja, es gab zwar Tore, aber man hatte sie umsichtigerweise mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Wenn sich einer nachts oder in der Dämmerung daran zu schaffen machte, dann stand er im gleißenden Licht und womöglich sogar unter den Augen der Überwachungskamera. Ludwig erachtete das als eine effektive Absicherung. Man musste schon einige kriminelle Energie mitbringen, wenn man diese Maßnahmen überwinden wollte. Und wenn ein Dieb tagsüber antrat, dann hatte er durch all das Personal hier in dem Ameisenhaufen sogar noch eher mit Entdeckung zu rechnen als nachts.
Womöglich sollten diese Vorkehrungen ja auch bewusst abschreckend wirken? Das passte zu Toni: Widerstand eine Chance zu geben, das war nicht seine Art.
Jetzt hatte Ludwig schon so einen weiten Weg um die Weidefläche herum zurückgelegt, jetzt konnte er den Kreis auch noch vollenden. Herrlich in die Landschaft eingebettet lag diese Ranch ja wirklich. Im Wilden Westen konnte es kaum schöner sein. Wirkte sie sogar attraktiver als das Original aus den Westernfilmen? Die Chancen dafür standen gut.
Als Ludwig seine große Runde fast geschafft hatte, da stieß er auf das Ende des alten Geheimwegs, an dessen Anfang er sich gestern auf der Fahrt zum Vorstellungsgespräch erinnert hatte. Und er sah, dass es den Weg eigentlich gar nicht mehr gab. Die Natur hatte sich ihr Terrain hier an dieser Seite des Pfades zurückerobert. Hohes Gras der Vergessenheit wucherte. Ein Fußgänger konnte zwar darüber immer noch die Ranch erreichen, aber eine ganze Herde von Vierbeinern hätte hier nicht unbemerkt nach draußen schlüpfen können. Und das wilde Gras hätte ebenfalls gelitten. Nein, hier war schon lange niemand mehr entlanggegangen.
Doch wann er selbst hier zuletzt stand, daran konnte sich Ludwig nur zu gut erinnern. Das passierte damals in der Jugend, am Folgetag seiner öffentlichen Demütigung durch Toni, als der ihm Barbara entrissen hatte. Oder sie sich hatte entreißen lassen. Gleichgültig – das war beides schlimm.
Damals hatte sich Ludwig eine Träne der Wut aus dem Augenwinkel gewischt und kreuzte danach hier auf, ja genau hier, nach unbemerktem Anschleichen auf dem verborgenen Weg.
Er hatte zwar keinen Plan, aber er hatte düstere Absichten im Gepäck. Entweder wollte er Toni überraschen und eine auf sein Großmaul hauen oder die Tore der Weide öffnen oder die Luft aus dem Reifen eines Traktors lassen oder gar einen Strohballen anzünden. Das waren ganz schön viele Oder für ein einzelnes Entweder-Oder. Typisch Ludwig – stets „entschlussfreudig“.
Da stand er nun hier, damals, fühlte sich irgendwie beobachtet, auch wenn es noch keine Kameras gab, und sinnierte: Die Glut seiner Gedanken allein hätte schon gereicht, um eine ganze Scheune in Flammen aufgehen zu lassen. Wut und Glut, das passte gut zusammen, es war richtiggehend symbolträchtig. Wie im Westernfilm: Die Kleinen, Geschundenen nahmen Rache an ihren Schindern, meist Mächtige, Unverrückbare. Da war es nicht mit einer Ohrfeige getan.
Sabine würde es heute sicher auch gerne sehen, wenn Ludwig dem reichen Toni für den Unfall mit Iris eins auswischte. Aber das stand für ihn nicht auf dem Plan. Er war nun Tonis Angestellter. Und da rächte man sich nicht gleich am zweiten Tag. So etwas gab es in keinem Westernfilm.
Als Ludwig jedoch damals hier stand, als Jugendlicher, als Gedemütigter, da sah das anders aus. Da war die Handlung weit fortgeschritten und sie hatte mit der Begegnung vor dem Kino einen wichtigen Wendepunkt erreicht. Da war Rache angesagt. Nur wie?
Stroh anzuzünden stellte am Ende doch eine blöde Idee dar, dachte sich Ludwig. Da konnte nicht nur Toni zu Schaden kommen, sondern auch Unschuldige. Also legte er diese Option beiseite. Also doch Pferde aus der Weide in die noch größere Freiheit nach draußen entlassen? Rundum erstreckte sich nur die Graslandschaft, da konnte ihnen nicht viel passieren. Und für die Rancher bedeutete es jede Menge Mühe, Hektik und Zeit, alle wieder einzufangen. Das blieb gewiss im Gedächtnis. Ja, das wollte er machen!
Ludwig wandte sich damals frisch entschlossen in Richtung Weide. Doch er kam nicht weit. Hinter ihm ertönte ein Befehl: „He, bleib stehen!“ Er hatte also Recht behalten mit seiner dunklen Ahnung, beobachtet zu werden. Und der Beobachter und Kommandogeber war kein Geringerer als Xaver Bentheneder, der Dorfsheriff. Höchstpersönlich.
Ludwig erschrak, denn dem Gesetz in Person stand man nicht alle Tage gegenüber. Und es hielt sich gewiss nicht zufällig hier auf. Es hatte ihm aufgelauert. Und es verschwendete keine Zeit. „Was hast du hier zu suchen?“, prasselte die erste Frage auf ihn ein.
„Ich?“, wich Ludwig aus.
Bentheneder war damals noch nicht lange Polizist, aber er wusste, dass ein längliches Katz-und-Maus-Spiel keine Punkte brachte. Den Delinquenten weiter in die Enge zu treiben, konnte also nicht schaden, um die Schuldfeststellung abzukürzen: „Du lungerst schon eine Weile hier herum. Ich beobachte dich seit zehn Minuten.“ Also tatsächlich: aufgelauert. Und der Sheriff wurde noch direkter: „Du hast Toni Kohlbayr bedroht?“ Das war eine schwere Anschuldigung – notdürftig in eine Frage eingewickelt.
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