1 ...7 8 9 11 12 13 ...25 Ludwig erwachte aus seinen Gedanken, als er mit dem Jeep auf dem Ranch-Parkplatz vorfuhr. Heute stand weiteres Videostudium auf dem Programm, keine großen Gespräche. Also lief er schnellen Schrittes in das Ranch-Hauptgebäude hinein, mit kurzem Gruß an Elvira Karl vorbei und schnurstracks in Richtung Videoraum. Somit entging er möglichen nervigen Fragen.
Er inspizierte noch einmal jedes Band: Gab es äußerliche Beschädigungen? Nein, da war nichts zu sehen. Als es draußen klopfte, schreckte er unwillkürlich zusammen. Ohne Abwarten sprang die Tür auf und Frau Gouvernante Elvira trat mit strengem Gesichtsausdruck herein. Sie stellte ihm wortlos einen Kaffee hin und Ludwig bedankte sich brav.
„Vielleicht verstellt sie sich nur und ist in Wahrheit nett?“, dachte er sich. Und mit der Kaffeetasse in der Hand und einem flauen Gefühl im Magen machte er sich angetrieben vom Rest seines morgendlichen Elans an die Videoanalyse 2.0.
Wieder nichts. Keine sich herumtreibenden Pferde, keine verdächtigen Personen. Die ganze Zeit nur Kunstlicht-beschienene Pferdeställe und Wege. Gegen Ende der Aufzeichnung verblasste dann die warme Helligkeit der Lampen und machte der Morgendämmerung Platz. Überall dasselbe. Oder nicht? Ludwig spulte das Band, das er gerade in der Mangel hatte, ein Stück zurück.
4.23 Uhr: nur Lampenlicht.
5.02 Uhr: immer noch nur Lampen.
5.54 Uhr: dito.
Dabei fand der Diebstahl doch bereits Anfang September statt! Da war es doch um diese Zeit schon ein bisschen hell draußen!
6.14 Uhr: Plötzlich sind die Lampen blass, die Sonne versteckt sich zwar noch hinter dem Horizont, reichert aber schon die Helligkeit der Szene an.
Wie sah das auf einem anderen Band aus?
Genauso.
Noch ein Band.
Wieder so.
Und beim Band vom Eingangstor, das gar keine Ställe zeigte? Dort gab es bereits um 5.50 Uhr etwas Sonnenlicht.
Aha!
Jetzt betrachtete Ludwig diese Zeitabschnitte nochmals genauer an und begann beim Band vom Eingangstor. Gleichmäßig hellte sich die Szenerie auf. Die Sonne schlich sich allmählich an. Also war alles unverdächtig.
Dann eines der anderen Kamerabilder: Lampendominanz bis 5.57 Uhr, danach plötzlich sanfte Sonne.
Und noch ein Band: schlagartig Sonne ab 5.58 Uhr. Er schaute genauer auf den Moment des Sonnen-Übergangs auf dem Band. An der Stelle sprang die auf der Aufzeichnung eingeblendete Zeit tatsächlich um einen kleinen Augenblick nach vorn, nur wenige Sekunden. Und vor diesem Moment sah das Bild anders aus als danach. Es zeigte zwar die gleiche Szene, aber die Farben erschienen unterschiedlich und auch der Sonnenlichtanteil.
Ludwig stellte seine Kaffeetasse ab, denn jetzt wurde es ernst. Er näherte sich einer Erkenntnis: Das lief wie in einem Bankraub-Film ab – jemand musste ein Foto vor den betroffenen Kameras angebracht haben. Und dieses Foto zeigte eine unverdächtige, leere Straße oder ein verschlossenes Stalltor und in Wirklichkeit ging in der Zeit die Post ab! Die Pferde wurden quasi über den Ladentisch gereicht, ohne dass eine Kamera es jemals aufgezeichnet hatte.
Ludwig hatte schon den Band-Abschnitt gefunden, in dem das Foto am Morgen wieder gegen die Realität zurückgetauscht wurde. Konnte er auch die Stelle finden, an der man das Foto vor die Kamera geschoben hatte?
Immerhin wusste er ja jetzt, wonach er suchen musste: nach einer kleinen Lücke in der eingeblendeten Zeit. Und er fand sie: in tiefster Nacht um 1.34 Uhr. Er sah den Zeitsprung, in dem die Kamera scheinbar abgeklemmt worden war und dann hing da das Foto vor der Linse. Durch die Abwesenheit von Sonnenlicht zu dieser Zeit konnte man den Unterschied zwischen Foto und realer Szene kaum bemerken. Jemand musste es also kurz zuvor aufgenommen haben, um so viele Gemeinsamkeiten zur realen Szene wie möglich aufs Bild zu bringen – zum Beispiel am Vortag oder unmittelbar vor der Tat zwischen 0 und 1 Uhr. Danach hatte er es ausgedruckt und vor der entscheidenden Phase angebracht. Dann erst wurden die Pferde bewegt und schließlich das Foto wieder abmontiert. Saubere Arbeit!
Und was verrieten die Videos über den Täter? Er hatte sich genau über die Lage der Kameras informiert und er musste die Abläufe kennen. Oder er kannte beides bereits, weil er Insiderwissen besaß.
War es also jemand von der Ranch? Das konnte man noch nicht sagen. Immerhin sprach die Vertrautheit mit den Tieren für diese These. Aber sie erschien trotzdem unwahrscheinlich. Warum sollte schon jemand, der von hier kam, von hier Pferde stehlen? Die waren doch alle so glücklich auf der Ranch und motiviert …
Ludwig kehrte den kurzen ironischen Anflug schnell wieder zur Seite. Auf alle Fälle handelte es sich um jemanden, der sich akribisch vorbereitet hatte.
Hatte Ludwigs Videobeobachtung den Verdächtigenkreis nun wie erhofft eingeengt? Ja, schon. Wäre es jemand gewesen, der wie ein Heuschreckenschwarm in der Natur oder wie eine Horde angriffslustiger Indianer im Western über die Ranch hereinfiel und danach nie wiederkam, er hätte sich auf das Überraschungsmoment verlassen und er hätte auf Schnelligkeit gesetzt. Er hätte sich vermummt, um nicht erkannt zu werden, und er hätte sich nicht die Mühe mit den Kameras gegeben. Er hätte sich derart schnell über alle Berge davongemacht, dass man ihn kaum eingeholt hätte. Eine Täter-Identifikation erschien dann so gut wie unmöglich, wenn er keine Spuren zurückgelassen hatte. Und die Pferde wären zügig weggebracht worden. Vermutlich sogar sehr weit weg.
Hier hatte sich stattdessen jemand ans Werk gemacht, der die Sorgfalt an die Stelle der Überraschung setzte. Er hatte sich Mühe gegeben, gar nicht erst gesehen zu werden. Er wollte keine Hinweise hinterlassen, die man für eine Verfolgung der Diebe und für eine Suche nach den Pferden benutzen konnte. Das sprach dafür, dass sich die Tiere noch in der Nähe aufhielten.
Wieder sprang die Tür auf, diesmal ohne vorheriges Klopfen. Und hereintrat: Toni. Doch jetzt erschrak Ludwig nicht, hatte er doch inzwischen ein kleines Gefühl von Nützlichkeit angesammelt, das ihm den Rücken stärkte.
„Und, Wiggerl, was gibt’s Neues?“, fragte Toni in einer Mischung aus Neugier und chefmäßiger Anstachelung.
„Jemand hat die Bilder einiger Überwachungskameras manipuliert“, erklärte Ludwig genüsslich. In einer solchen Feststellung war ja auch ein kleiner Vorwurf verpackt: Es gab einen Fehler im unfehlbaren Toni-System.
„Was?“, erwiderte Toni betroffen und tatsächlich wie einer, dem man gerade einen Fehler in seinem System nachgewiesen hatte.
„Derjenige hat sich besondere Mühe gegeben und die Aufzeichnungen verfälscht“, schwächte Ludwig den Vorwurf ab.
Toni nickte wichtig und gewann seine Selbstgerechtigkeit zurück. Sein System wies zumindest keinen einfachen, stupiden Mangel auf. Man konnte ihm kaum Leichtfertigkeit vorwerfen.
„Weißt du schon, wer es getan hat?“, bohrte Toni auf der Suche nach konkreten Ergebnissen nach.
„Wie ich sagte“, entgegnete Ludwig ruhig, „er hat sich Mühe gegeben und die Videos verraten mir nicht seine Identität.“
„Und jetzt?“ Toni wurde ungeduldig.
„Jetzt suche ich weiter. Die Pferde halten sich vermutlich nicht weit entfernt auf.“
„Soso“. Toni konnte nicht ganz folgen, aber es war nicht seine Art, fehlende Kombinationsfähigkeit zuzugeben. „Na dann, bis später“, verabschiedete er sich im guten Gefühl, dass die Dinge vorangingen. Schließlich hatte er sich ja auch gerade gekümmert. Da blieb Fortschritt unausweichlich.
Der kleine Videoerfolg gab Ludwig Schwung. Ein Erfolg war ein Erfolg. Und um seine Fortschritte stets vor Augen zu haben, fuhr er nach dem Videostudium direkt in den nächsten Laden und besorgte sich ein Notizbuch. Seine kleine, feine Liste von Erkenntnissen, die er darin festhielt, würde ihm über manche Motivationsdelle hinweghelfen, wenn es mal Rückschläge gab. Oder Herausforderungen. Und die nächste wartete bereits auf ihn – jetzt, da das Videostudium erledigt war: der Dorfsheriff. Ludwig wollte wissen, was der so alles wusste.
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