Sabine hatte ihre gelegentlichen Besuche bei Ludwig auf vereinzeltes Telefonieren zurückgefahren. Bald gab es nur noch unregelmäßige Nachrichten in ihrem Lieblings-Messenger-Programm. Doch so weit war es zum Glück für Ludwig noch nicht gekommen und so erzählte Sabine eines Tages, dass sie von einer Bekannten gehört hatte, die von einer Kollegin erfahren hatte, deren Tochter auf der Ranch zum Reiten ging, dass dort Pferde spurlos verschwunden waren. Wahrscheinlich waren sie ausgebüxt. Mehr zum Dramatischen neigende Naturen hätten gesagt, dass die Tiere gestohlen wurden. Andere, auf Ausländer-Verschwörungstheorien und Wirtschaftskrimis gepolte Zeitgenossen, hätten sogar geschworen, dass die Russenmafia dahintersteckte und dass es überall Diebstähle gab, weil sich die Russen Fleisch besorgen mussten, um über den nächsten Winter zu kommen. Natürlich hatten die noch nie die Russenmafia gesehen, wenn überhaupt einen Russen. Und deren Fleischbedarf konnten sie auch nicht einschätzen und erst recht nicht, ob die in einer Notsituation steckten.
Ludwig glaubte nur ungefähr ein Zehntel davon. Das sagte ihm seine Erfahrung. Und die flüsterte ihm weiterhin zu, dass Toni Kohlbayr über all die Jahre von Ludwigs Abwesenheit hinweg in seiner Laufbahn vorangekommen war und heute als Boss über der Ranch thronte. Sie kannten sich. Also gab es einen Anknüpfungspunkt, wenn sie sich mal wieder trafen.
Und dass sich dieser Toni ins Visier der Russenmafia begab, ohne entweder etwas dagegen zu tun oder sich mit denen zu arrangieren, das gehörte für Ludwig ins Reich der Fabel, denn das war nicht Tonis Art – der war viel zu gerissen. Also glaubte er auch nicht, dass diese Sache auf der Ranch eine heiße, kriminelle Kiste darstellte, von der man lieber die Finger ließ, um sich nicht zu verbrennen.
Ludwig ertappte sich vielmehr dabei, wie er sich für den Fall interessierte. Sabine sagte dann noch, dass man einen Sicherheitsmenschen für die restlichen Pferde suchte. Und vor seinen Augen fügte sich das Puzzle zusammen: Die Geldnot und der Bedarf auf der Ranch sahen sich gegenseitig in die Augen wie zwei frisch Verliebte, die glaubten, dass sie das perfekte Paar abgaben.
Da gab es nur ein Problem: Ludwig konnte Toni nach wie vor nicht leiden.
Doch nach kurzem Nachdenken war er bereit, seine Abneigung für eine Weile in die Ecke zu stellen und ein Wagnis einzugehen. Ja, er wollte auf der Ranch einmarschieren und fragen, was denn das für ein Job sei, den man dort feilbot.
Doch das machte man heutzutage nicht einfach so. Man musste seine Karten ausspielen. Also kündigte er sich telefonisch an. Er hatte Glück, denn er bekam gleich eine Person an die Strippe, die sich auskannte: Der gesuchte Bewacher war Chefsache und so wurde Ludwig kurzerhand an eben diesen weitervermittelt. Die Telefondame wollte ihn kurz beim Boss ankündigen und er solle sich auf eine Mobiltelefonverbindung gefasst machen.
Aha, Toni war also unterwegs.
„Hallo?“, meldete sich nach kurzer Vermittlungs-Pausenmusik eine Stimme, deren Klang für Ludwig sofort alte Erinnerungen zurückbrachte.
„Hier spricht Ludwig Donner“, ließ er seinen Namen erklingen. Und er erwartete Begeisterung am anderen Ende der Leitung, wie sie eines dieser typischen Wiedersehen nach Jahren hervorbringt. Oder zumindest sprachlose Verblüffung.
Stattdessen fragte die Toni-Stimme: „Wer? Die Verbindung ist so schlecht.“
Ludwig holte wieder Luft.
Die Stimme kam ihm aber zuvor: „Egal. Sie interessieren sich für die Pferdeüberwachung, sagte meine Mitarbeiterin? Kommen Sie heute um 17.30 Uhr in mein Büro.“
Aufgelegt. Ludwig konnte wieder ausatmen. Und es passte ins Bild: Geduldig auf Leute einzugehen, das war nicht Tonis Art. Klare Ansagen schon eher.
Ludwig fragte sich abermals, in was er sich hineinbegab. Aber andererseits unterlag er einem Zwang zur Arbeitssuche und außerdem seiner Neugier. Man konnte sich ja wenigstens mal ansehen, was da für ein Angebot auf dem Tisch lag. Danach Nein zu sagen, das blieb immer noch möglich – zumindest theoretisch, wenn man die Geldnot ausklammerte. Außerdem klebte die Chance auf der Ranch ein Pflaster auf sein schlechtes Gewissen Sabine gegenüber: Womöglich eröffnete sich ihm die Gelegenheit, etwas über Iris’ Unfall herauszubekommen. Der gab ihm schon Rätsel auf, gestand er sich ein. Schließlich gingen Stürze vom Pferd normalerweise glimpflich ab.
Mit solchen Grübeleien schleppte sich Ludwig über die angespannten Stunden des Wartens. Reichlich vor 17.30 Uhr stieg er dann in den Jeep und fuhr zur Ranch.
Die Straße dorthin war früher eher ein Feldweg gewesen und am besten mit einem Traktor zu befahren. Inzwischen hatte man sie, wie es Sabine beschrieb, zur Piste aufgewertet, die auch tiefergelegte Sportwagen ohne bleibende Schäden in Angriff nehmen konnten. Für Ludwig schillerte das alles zu sehr nach Hochglanz. Da freute er sich, als sich links eine Abbiegemöglichkeit auftat – ein für einen Fremden kaum wahrnehmbarer Weg, der sich durch ein Wäldchen schlängelte. Ludwig kannte ihn von früher und er wirkte angenehm ursprünglich, nicht begradigt, wild. Auf dieser Zufahrt konnte man die Ranch ebenfalls erreichen, allerdings – anders als auf dem Hochglanzweg – ohne von dort aus gesehen zu werden.
Als Kinder hatten Toni und er auf dem Geheimpfad oft Anschleichen geübt, wenn sie mal miteinander spielten. Das klappte nicht immer, denn Toni gab sich launisch – zumindest in Ludwigs Augen – und wechselte den Spielkameraden gelegentlich, stets auf der Suche nach Abwechslung.
Kurz juckte es Ludwig in den Fingern, das Steuer des Wagens herumzureißen und den geheimen Pfad zu nehmen und nicht diese Formel-1-Allee hier, den Jeep total unterforderte. Er ließ es jedoch lieber sein. Als Kind hätte er diese Abenteuerlust ausgelebt. Heute hingegen war er erwachsen und fürchtete die Verspätung im unwegsamen Gelände. Außerdem gab es keinen guten Einstand ab, im Morast steckenzubleiben. Heute war Vorstellungsgespräch angesagt und nicht Anschleichen.
Er erreichte die Ranch. Alles wirkte dort penibel aufgeräumt und ordentlich. Gab es hier wirklich Pferde, so richtig mit Dreck und Pferdeäpfeln oder diente das hier alles nur als ein gigantisches Schaufenster, gemacht um zahlende Pferdefreunde anzulocken?
Damit diese nicht die Orientierung und das gute Benehmen verloren, gab es hier sogar Verkehrsschilder: Hinweise auf den offiziellen Parkplatz und auf das Schritttempo, das man tunlichst einhalten sollte, sonst verschreckte man die Tiere. Also mussten die wohl doch aus Fleisch und Blut sein und keine Automaten ohne Angst vor Autos und ohne ruchbare Ausscheidung.
Am Parkplatz angekommen, spürte Ludwig dann doch die Aufregung. Er setzte seine Baseballmütze ab, sonst sein treuer Begleiter, dafür aber auch leicht abgenutzt. Ja, er wollte eine gute Figur machen, denn diese Ranch machte ebenfalls eine gute Figur.
Mit der super Beschilderung fand er den Weg zum Büro schnell. Eine Vorzimmerdame, die seine Eignung abklopfte, zum Chef vorgelassen zu werden, hätte ihn nicht sonderlich überrascht. In der Tat gab es eine Art Empfang, der aber gerade leer stand. Wahrscheinlich besetzte man ihn nur zu den Tageszeiten mit dem meisten Besucherverkehr oder wenn Reiterferien anstanden und Welle um Welle von Koffer-bepackten Pferdefans wie die Brandung auf einen Strand auflief.
An einer Tür stand „Büro“ und Ludwig klopfte. Ein entferntes, aber kräftiges „Ja!“ forderte ihn auf einzutreten. Er holte noch einmal Luft und räusperte sich. Beides sollte ihm eine feste Stimme geben und der feste Ton ihm wiederum einen guten Auftritt ermöglichen. Er hatte sich darauf eingestellt, dass er sich hier beweisen musste. Schwungvoll öffnete er die Tür – und stand nicht im Büro, sondern tatsächlich in einem Vorzimmer. War das nur Show oder normalerweise wirklich besetzt? Durch eine Seitentür gab es einen Durchgang in einen größeren Raum. Ein kurzes Rascheln von Papier zeigte eben dort eilige Arbeit an. Jemand stand auf und trat auf die Verbindungstür zu. Ludwig erkannte ihn sofort: Es war Toni Kohlbayr, der Leibhaftige.
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