Er erschrak, vermochte seine Schwester kaum am Telefon zu trösten. Dieser Anruf kam wie ein Überfall und er war nicht darauf vorbereitet gewesen. Seine Instinkte signalisierten ihm aber, dass er etwas unternehmen musste. Also versprach er kurzerhand, dass er nach Deutschland kam. Er wollte Schwester und Nichte beistehen. „Familie verbindet doch“, sagte er, weil ihm gerade keine besseren Worte einfielen. Das war auch kein Wunder, denn der Anruf erreichte ihn in den USA, im ehemaligen Wilden Westen, neun Zeitzonen von hier entfernt. Deutsch bildete dort nicht mehr sein täglich Brot. Im Englischen konnte er sich gewandter ausdrücken nach den etlichen Jahren, die er im Silicon Valley verbracht hatte.
Und jetzt saß er hier in der Heimat und konnte sein Deutsch zurückgewinnen.
Doch die Sprache geriet zur Nebensache, denn so heftig wie die Horrornachricht von Sturz und Bewusstlosigkeit einschlug, so hatte sie für Ludwig doch auch eine Chance im Gepäck: Er konnte marode Brücken endgültig abbrechen und seine alten Probleme sowie seine gescheiterte Beziehung dahinter zurückzulassen.
Befand er sich am Start zum Neuanfang oder auf dem Absturzpfad zum Nullpunkt? Er hoffte auf Ersteres.
Jetzt stand er hier in der Sonne und die machte keinen Unterschied – sie schien für Gewinner genauso hell wie für Verlierer. Und heute empfing sie Ludwig mit angenehmer Wärme, nachdem er viele Jahre in der Ferne gelebt hatte.
War er immer noch der gleiche Mann oder war er inzwischen ein anderer? Er wusste es selbst nicht. Wie nahm man ihn hier auf? Als Rückkehrer oder als Fremden? Fiel er etwa sogar in den Zuagroasten-Status zurück?
Drüben in den USA hatte er genau den innegehabt, aber mit ihm zusammen auch noch viele andere um ihn herum. Also fiel er nicht auf, im Gegensatz zu seinem Namen. „Ludwig“ konnte kaum ein Ami halbwegs passabel aussprechen. Das klang kompliziert und war nicht einfach zu bewerkstelligen. Und somit passte es nicht so recht zur Schnelllebigkeit, die drüben den Takt vorgab, und dem verbreiteten Drang nach dem leicht errungenen Erfolg. Aber dafür zeichnete die Amis ihr findiges Wesen aus und wenn sie schon nicht seinen Vornamen erobern konnten, dann hielten sie sich eben am Nachnamen fest. Den verkürzten sie einfach zu „Don“ und schon war ein für die US-amerikanische Zunge aussprechbarer Name geboren: „Don“ – das klang doch gut! Eigentlich gebührte dieser Titel nur ehrwürdigen Familienoberhäuptern, aber Ludwig nahm ihn trotzdem an. Es gab Schlimmeres.
Manche riefen ihn allerdings genauso konsequent wie falsch in der Langform von Don – Donovan. Das war dann wirklich weit vom echten Namen entfernt und er wehrte sich dagegen.
In der bayerischen Kindheit rief man ihn hingegen oft bei seinem Spitznamen Wiggerl. Das passierte aber seltener in der eigenen Familie, die Ludwig sehr mochte, sondern vielmehr bei Leuten, die er weniger gut leiden konnte, wie zum Beispiel bei seinem gleichaltrigen Bekannten Toni Kohlbayr. „Don und Wiggerl, dazwischen liegen Welten“, dachte sich Ludwig. Und der Gedanke, dass man beides zu „Don Wiggerl“ kombinieren konnte, belustigte ihn. Don Wiggerl – so klangen Namen von Westernhelden.
Doch Ludwig fühlte sich jetzt nicht wie ein Held, sondern eher wie ein Gringo, den sie aus der Stadt gejagt hatten und der sein Glück deshalb woanders versuchen musste.
Und auch sein erster Auftritt hier in der „Alten Welt“ verlief wenig glücklich: Gestern stand er gemeinsam mit Sabine am Bett von Iris. Seine Schwester gab sich ihrer Verbitterung darüber hin, dass so ein Unglück überhaupt passieren konnte. Überall hielt der moderne Alltag Sicherheitsvorkehrungen bereit, die den Menschen von heute nahezu unangreifbar machten. Warum lief das nicht auch auf der „Ranch“ so, wie alle den hiesigen Pferdehof nannten und auf dem der Unfall passierte? Wie konnte Iris derart schwer stürzen, trotz Helm und Rückenpolstern? Hatte niemand aufgepasst?
Dieser Moment bot für Ludwig einfach nur die Gelegenheit, seine Hand tröstend auf die Schulter einer besorgten Mutter zu legen, um ihr dadurch etwas von der Last der Verbitterung zu nehmen. Doch er musste ja unbedingt etwas sagen, obwohl er die Antwort auf Sabines Frage gar nicht kannte. Dabei kam sein eher spaßig gemeinter Einwand heraus, dass die Leute im Western auch nicht sanft vom Pferd fielen.
Das war unpassend und kam folgerichtig auch schlecht an. „Lernt man sowas im Silicon Valley?“, bellte ihn Sabine an und Ludwig entschuldigte sich mit einem verunsicherten Achselzucken.
Ja, aus dem Silicon Valley kam er hierher. Aber dort arbeitete er nicht etwa als gut bezahlter Ingenieur, Software-Freak oder Netzwerk-Magier – nein, er diente sich als ein eher mittelmäßig entlohnter Sicherheitsmensch an. Er schützte Objekte, in denen Ingenieure, Software-Freaks und Netzwerk-Magier ihrer Zauberei nachgingen und neue Werte schufen. Er gewährte ihnen und ihren Reichtümern Schutz, mitten im Herzen des kalifornischen Jobmotors. Dafür durfte er drüben eine Pistole an seinem Gürtel tragen, ganz legal mit Erlaubnis. Für ihn fühlte sich das Schießeisen manchmal sogar wie der Colt eines Westernhelden an, als ein Ausdruck von Macht. Aber zum Glück musste er die nie von der Leine lassen. Er spielte sich nicht gerne auf. Ein Dienst ohne Vorkommnisse passte ihm am besten in den Kram.
Und nun fragte ihn seine Schwester, ob er nicht was auf der Ranch unternehmen könnte, Nachforschungen anstellte, Schuldige dingfest machte und sie ihrer Bestrafung zuführte.
Ludwig schaute abwechselnd zu Sabine und auf Iris. Er begriff, dass einer Mutter in einer derartigen Lage zwangsläufig solche Fragen durch den Kopf schwirrten, wenn sie vor ihrem Kind stand, aus dessen kraftlosem Körper Schläuche herausragten wie aus einer kaputten Maschine.
Da gab es kein Vertun: Die Lage war angespannt. Sabines und Ludwigs normales Bild von Iris zeigte ein aufgewecktes junges Mädchen. Doch jetzt lag sie hier, angeschlossen an Geräte, ohne jede Regung, nicht ansprechbar. Und keiner wusste, wie lange das noch so weiterging. Die Ärzte wollten sie bis auf weiteres im künstlichen Koma halten. Und eine Verschlimmerung des Zustandes wollte man sich gar nicht ausmalen! Die war aber im Angebot. Daher nahm hier im Krankenhaus auch keiner die Situation auf die leichte Schulter. Iris erhielt den vollen Einsatz des Personals und den hatte sie auch verdient, weil sie in diesem Bett ein Stück ihrer wertvollen Jugend verpasste, während draußen das Leben tobte.
Und sie hätte auch Ludwigs vollen Einsatz verdient gehabt. Aber was hatte er anzubieten? Auf unerfüllbare Versprechungen wollte er keinesfalls einsteigen. Das konnte seine Schwester doch als Letztes gebrauchen. Also wich Ludwig aus und sagte ihr, dass es nach allen verfügbaren Informationen ein tragischer und seltener Unfall gewesen war.
Ja, er kannte zwar den Inhaber der Ranch, eben jenen Toni Kohlbayr. Aber gleichzeitig verband die beiden auch eine innige Abneigung, deren Wurzeln weit auf dem Zeitstrahl zurückreichten. Ein Schuldeingeständnis der Ranch erwartete Ludwig jedenfalls nicht. Das war nicht Tonis Art. Die Versicherungen würden ja sonst auch die Messer wetzen, woran keiner auf der Ranch ein Interesse hatte.
Und wenn es Sabine gar nicht um das Eingeständnis von Schuld oder Versäumnissen ging? Wollte sie vielmehr Vergeltung? Sollte er einfach Rache nehmen, wie er es im Westernfilm schon oft gesehen hatte?
Vielleicht erwartete Sabine das wirklich, denn sie war auf sich allein gestellt, erzog Iris im Alleingang und erbrachte im Solo den Lebensunterhalt. Kein „starker“ Mann stand an ihrer Seite. Niemand war da, der die Beschützerrolle übernehmen konnte, der ihr zur Seite sprang, vor allem wenn Iris bleibende Schäden behielt und Sabine gar nicht wusste, wie es weitergehen sollte.
Doch diese Beschützerrolle war ein Paar zu großer Schuhe für Ludwig. Er zog sie sich deshalb nicht an. Er versprach nichts.
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