Doch damit hatte Barbara nicht ernsthaft gerechnet. Dafür standen sie sich früher einfach zu nahe, wenn auch nicht derart nah, dass man es „intim“ nennen konnte.
„Du hütest also unsere Pferde“, scherzte sie und lachte dabei, „wie ein Cowboy.“
Ludwig gestand ihr die Vereinfachung zu: „Kann man so sagen.“
„Und du fängst den Pferdedieb, wie im Wilden Westen?“, fragte sie weiter, so als wollte sie seine Entschlossenheit checken.
„Lässt Toni das fragen?“, rutschte es Ludwig heraus und er biss sich sofort auf die Lippen. Warum denn gleich so garstig? Und dann musste er auch noch diesen Toni ins Bild zerren. Tja, der symbolisierte eben immer noch ein Stück weit ein rotes Tuch; der war an allem schuld, der hatte ihm doch die Barbara weggeschnappt.
„Nein, ich interessiere mich selbst“, erwiderte sie und die Scherzhaftigkeit wich aus ihrer Stimme.
„Natürlich, natürlich“, beschwichtigte Ludwig und ärgerte sich, dass er so ganz und gar nicht cool rüberkam. Es saß im gleichen Dilemma wie früher auch. Er fand einfach nicht den Schalter von bemüht zu selbstsicher. Und auch diese Unterhaltung entglitt ihm. Er versuchte, sich zu fangen. „Ich habe schon auf den Videos etwas gefunden und den Bentheneder habe ich auch schon besucht“, verwies Ludwig auf seine guten Taten.
„Ach, den gibt’s noch?“, fragte Barbara und fand spielerisch zurück in den leichten Ton.
Ludwig nickte. „Ich werde eure Pferde schon finden, ich muss mich noch umsehen“, verwies er auf die Zukunft, um zu verdeutlichen, dass er einem Plan folgte.
„Na dann will ich dich nicht lange aufhalten“, sagte Barbara und wandte sich bereits zum Gehen.
„Oh, ich wollte dich nicht vertreiben!“, setzte Ludwig hastig hinterher. So ein Mist, die Unterhaltung war immer noch am Rutschen. Krampfhaft versuchte er, sie festzuhalten.
„Passt schon“, hauchte Barbara und entschwand wie jemand, der wusste, dass man ihm Blicke nachschickte.
Und Ludwig blickte noch eine ganze Weile. Da hatte er sich über all die Jahre nun so schön von Barbara entwöhnt und – zack – eine Begegnung und schon kam alles wieder: die Schwärmerei, die Aufregung, die Anziehungskraft.
Ludwig hatte damals in der Jugend den Eindruck gewonnen, dass seine Gefühle der Zuneigung sich durchaus nicht in einer Einbahnstraße bewegten, sondern dass da ein Anflug von Erwiderung in Barbaras Augen schimmerte. Zu blöd nur, dass sie sich damals nicht Toni Kohlbayrs vereinnahmendem Charme entziehen konnte.
Bevor alles zusammenbrach und Ludwig in die Staaten zog, da gab es einen Moment, einen ganz speziellen: Sie standen sich gegenüber und unterhielten sich und Barbara kam ihm auf einmal nahe, ihr Gesicht rückte vor seines, seine Augen konnten sonst gar nichts mehr von der Welt sehen, und ihre Lippen näherten sich. Ludwig fieberte auf den erotischen Moment hin, auf die Erfüllung, auf den Kuss. Doch Barbara hielt kurz davor inne und die sinnliche Seifenblase zerplatzte. Danach herrschte für eine lange Zeit Flaute auf Ludwigs Meer der Liebe.
Doch als er schon eine Weile in den USA lebte, da kam wieder eine sanfte Brise auf. Er wollte sich eigentlich gar nicht mehr daran erinnern, aber er hatte auch mal eine Frau. Keine Ehefrau. Eine Freundin? Mehr als das. Eine Lebensabschnittsgefährtin? Ja, so ungefähr. Carrie hieß sie, Carrie Whitworth.
Sie war sein größter Irrtum. Aber dieses Gefühl stellte ebenfalls keine Einbahnstraße dar, es ging vielmehr in beide Richtungen, denn auch sie sah Ludwig als ihren schlimmsten Missgriff an. Die Beziehung hielt nicht lange. Und der traurigste Teil davon war ihre gemeinsame Tochter: Callista. Nein, nicht Callista als Mensch war das Traurige, wie konnte ein Kind das auch jemals sein? Bitter war, nein noch schlimmer: niederschmetternd war, dass er nicht mit ihr zusammensein konnte. Sie lebte drüben, in den USA. Ludwig blieb kaum mehr ein Teil ihres Lebens. Höchstens noch in spärlichen Erinnerungen, manchmal. Aber er hatte sie schon lange nicht mehr gesehen. Nach dem Beziehungs- Aus mit Carrie zogen die beiden weg und obwohl Ludwig nie einen großartigen „Dad“ abgegeben hatte, so schloss sich für ihn dadurch auf schmerzhafte Art ein Zeitfenster, in dem er mit seinem Kind gemeinsame Momente, Erlebnisse und Entwicklung teilen konnte.
Carrie wünschte keine Besuche und Ludwig fühlte sich unsicher, ob er trotzdem den Willen dazu aufbringen sollte. Denn er grübelte überdies, ob seine Gastspiele mehr Schaden als Nutzen anrichteten. Sie konnten das Kind mehr durcheinanderbringen, als sein Gemüt aufzuhellen, nachdem die Nabelschnur nun einmal durchschnitten war.
Ludwig blieb zurück, knietief in der Tristesse des Single-Lebens. Bis soeben, denn die Begegnung mit Barbara hatte etwas in ihm entflammt, das er in der Asche seiner Beziehungsdramen verbrannt geglaubt hatte. Der Gedanke, wieder in Barbaras Nähe zu sein, wärmte Ludwig behaglich das Herz, wie das ein guter Glühwein im Winter schaffte – zusammen mit einem angenehm benebelnden Gefühl auf den Schultern des schwachen, weichen Alkohols. Ludwig war trunken davon, versuchte die kalifornische Tristesse zu vergessen und die bayerische Chance zu umarmen: Er wollte Barbara zeigen, was für ein Kerl er war – wie ein Cowboy, der mit der Peitsche knallte, um auf sich aufmerksam zu machen.
Und tatsächlich, mit Barbara hielt die Dynamik Einzug in Ludwigs Dasein. Er tankte aus der Begegnung mit ihr Energie und Hingabe – gleichsam für ihre Person wie für seine Aufgabe. Alles ging leichter von der Hand – die Beobachtungen auf der Ranch, die Gespräche hier und da.
Und noch etwas brachte die weibliche Begegnung in Bewegung: Jetzt hatte er den zwei wundesten Punkten seiner Vergangenheit und ihren Personifizierungen in Toni und in Barbara nun schon gegenübergestanden. Da konnte er sich vor dem Rest der alten Bekanntschaft mittlerweile auch wieder sehen lassen. Es ging ja nur um ein Gespräch und nicht um ein Duell.
Also griff er zum Telefon und rief seinen alten Bekannten Benny an. Der brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass Ludwig nicht mehr jenseits des Großen Teiches weilte. Scheinbar hatte er ihn, angemessen zu dieser riesigen Distanz, genauso weit in seinen Erinnerungen nach hinten gestellt.
Aber Benny schaffte es dann doch, Ludwig wieder hervorzukramen. In seiner Stimme schwang auch etwas Erleichterung mit, so als ob ein übles Kapitel endlich zu einem guten Ende kam – ein Kapitel, mit dem er ein schlechtes Gewissen verband.
„Recht so“, dachte sich Ludwig, standen doch Benny und Peter damals bei der Konfrontation am Kino nur herum, anstelle ihm zur Seite zu springen.
Na gut, das war angesichts von Tonis Präsenz hier in der Gegend auch ein bisschen viel verlangt. Genau wie in einer typischen Westernszenerie verfügten die Mächtigen auch hier über ihr Terrain und konnten schalten und walten, wie sie wollten. Und dieser Bereich umfasste eben nicht nur die eigene Ranch, sondern auch die nächste Stadt oder das umliegende Dorf gliederten sich, zumindest moralisch, in diesen Besitz ein. Dagegen konnten nur große Westernhelden anstinken. Und weder Ludwig noch Benny waren große Helden gewesen, zumindest im bisherigen Teil der Geschichte.
Ludwig freute sich spitzbübisch bei dem Gedanken, dass er der Story jetzt noch weitere Kapitel hinzufügen konnte. Ob sich sogar das Kräfteverhältnis verschieben ließe? Warum nicht? Jeder durfte ein Held werden!
„Soll ich Peter Bescheid sagen?“, holte ihn Benny aus seinen spitzbübischen Gedanken zurück in die Gegenwart. Nach dem Höhenflug setzte er gemächlich wieder zur Landung an, allerdings zu gemächlich. „Hallo?“, drängte Benny, als die Antwort ausblieb und ihm das alles zu lange dauerte.
„Ach ja, den Peter, ja klar, warum nicht?“, stimmte Ludwig zu und war erleichtert, dass ihm der zweite Telefonanruf erspart blieb. Den Leuten persönlich gegenüberzutreten lag ihm tausendmal mehr, als sich nur fernmündlich in Erinnerung zu bringen.
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