„Könntest du das bitte näher erläutern, so sagt es mit nichts.“
„Tut mir leid, ich habe eigentlich schon zuviel gesagt. Aber denkt trotzdem an diese Worte, ihr werdet sie verstehen, wenn ihr dem Beschriebenen begegnet. Und hofft, dass dieses geschieht, bevor es zu spät ist.“
Sein Gesicht drückte unmissverständlich aus, alles weitere Fragen wäre sinnlos.
„Ihr müsst wissen“,
fuhr er fort, als wollte er das Thema mit Worten endgültig vom Tisch fegen,
„wir als Volk der Habascha lebten ursprünglich jenseits des Meeres in der Nähe dieses Landes Hadramaut.“
„Davon habe ich ebenfalls gelesen“,
warf ich ein.
„Aber das war vor gar zu langer Zeit, noch bevor Äthiopien ein christliches Land war, und sogar noch vor dem Axumitischen Reich. Unmöglich,dass...“
„Du meinst, unsere Erinnerung könnte nicht bis dahin zurückreichen, weil eine so große Spanne von Zeit dazwischen liegt? Es würde zu weit führen, wollte ich euch jetzt auseinandersetzen, als was wir die Zeit betrachten. Nur soviel will ich sagen: Der Mensch ist der Narr der Zeit. Und es ist wichtig, mit der Vergangenheit sich zu befassen, weil wir mit ihr verbunden, ein Resultat von ihr sind und aus dieser Kenntnis großen Nutzen ziehen können. Schon immer war es in unserem Stand notwendig, alles Wissen genauestens weiter zu geben vom Meister auf den Lernenden. Dazu gehörten neben den beruflichen Kenntnissen auch die wichtigsten Geschehnisse von den frühesten Tagen an. Das verhalf uns mit der Zeit zu einem gewissen Durchblick, langfristige Entwicklungen als solche zu begreifen, die für andere Augen, die nicht das Ganze erfassten, nur wie einzelne Zufälle aussahen. Ihr fragtet, warum gerade Hyänen, ein Tier welches zwar gefürchtet, aber nie sonderlich geachtet war? Die Frage ist berechtigter, als ihr annehmen mögt, war doch ursprünglich die Rede von Löwen, und das in ganz anderer Bedeutung. Uns begann man aus einem ganz anderen Grunde, einem sehr ehrenhaften, die Löwen von Habascha zu nennen. Wie es dazu kam, und auch durch welche Verleumdung sich dieses hohe Ansehen umkehrte, das hat mit den Ereignissen bei der Burg der Schande zu tun. Solltet es euch wirklich gelingen, bis dorthin zu kommen, so werdet ihr erkennen, welch ein besonderer Ort das ist. Ich kenne keinen anderen Ort, an dem etwas so wichtiges so deutlich zu erfahren ist, die Quelle aller Dinge, der Schoß der Fülle der Erscheinungen, der Schlüssel zum Verständnis. - Aber es wäre unmöglich, euch dieses hier und jetzt erklären zu wollen. Entweder ihr gelangt dorthin und macht diese Erfahrung, oder nicht. Genaugenommen begann alles mit jenen, von denen es hieß, sie seien aus dem Gluthauch der Wüste erschaffen.“
Er sah unsere fragenden Gesichter und nickte:
„Ich hatte mir gedacht, dass ich euch auch dieses erklären müsste. Seht ihr, das ist es, was diese Art von Geschichten so ausschweifig macht. Also, über jene Wesen wäre zu sagen...“
Was darüber zu sagen wäre, und was weiter geschehen war, wir sollten es nicht erfahren, denn durch die offene Tür klang ungeduldiges Hupen. Hastiges Verabschieden, es widerstrebte uns sehr, aber offensichtlich waren wir noch nicht so weit, ein einmal gefasstes Programm kurzentschlossen fallen zu lassen. Mit ein wenig mehr Praxis, in "nicht das zu tun, was alle taten", hätten wir wahrscheinlich dem Busfahrer leichten Herzens zugewunken, er möge ohne uns weiterfahren. Später erfuhren wir noch so manches, was es uns umso mehr bedauern ließ, die Geschichte nicht zu Ende gehört zu haben. Die Silberschmiede winkten uns zum Ausgang nach mit eigenartigem Blick, so als müssten sie Nachsicht mit uns haben.
Die Nachmittagssonne hatte sich schon merklich gesenkt und überflutete die Landschaft mit einem weichen, goldenen Licht, als wir in eine ausgedehnte Talmulde fuhren, fast schon eine Ebene. Die Vegetation nahm zu, und wie in einer großen Oase lag die Stadt Gondar.
Obwohl verhältnismäßig groß, wirkte die Stadt ein wenig verträumt unter ihren vielen Bäumen. Das Zentrum war ein riesiger, verwilderter Park, eigentlich ein Wald mit den Lustschlössern der verschiedenen Kaiser. Welch ein Gegensatz nach stechender Hitze, Staub und Steinen waren laue Luft und von schattigem Grün gefiltertes Sonnenlicht. Tagelang streiften wir umher, kletterten über Baumwurzeln und umgefallene Mauern. Gerade das Halbzerfallene und überwucherte, die unretuschierten Spuren der Zeit machten diese Mischung aus Vegetation und Architektur so reizvoll. Stil und romantisches Flair erinnerten an mitteleuropäische Burgen, und doch war da eine wilde Fremdartigkeit. Exotische Bäume und gewaltige Luftwurzeln über den Mauern wechselten mit Lichtungen. Durch hohe Disteln und blühende Sträucher führten Zinnen gekrönte Bögen von Brücken zum nächsten Schloss. Alles war so belassen, wie es war, nichts geordnet oder geschönt, keine Hinweisschilder, keine Souvenirbuden, keine Straßen. Man ging auf natürlichen Wegen und Pfaden von einer Entdeckung zum nächsten Durchblick, den ein Bogen öffnete zu alleinstehenden Mauerteilen, die aus dem Gras oder zwischen blühenden Büschen herausragten, und endete manchmal abrupt vor einem Turm oder einem noch erhaltenen Stück Umfassungsmauer des weitläufigen Geländes. Treppen führten zu angebauten Terrassen, hinter die Zinnen von Dächern und Türmen oder endeten einfach zwischen den Wipfeln von Palmen und dem Laub mächtiger Bäume. Diese Tage in Gondar waren wohltuend und erholsam. Aber da war noch mehr. Wir erinnerten uns schon noch unseres zuvor so dringenden Zieles, das zu erreichen wir Risiken und Strapazen auf uns genommen hatten. Was hinderte uns jetzt eigentlich noch daran? Zwar erhielten wir wiederholt den wohlgemeinten Ratschlag Amhars, doch besser hier zu bleiben, untermauert mit dem Argument, im Jemen trieben ohnehin Dschinns und Dämonen ihr Unwesen. Der Versuch dieses als Gespinst zu entlarven, verursacht durch allerlei Gerüchte der Bürgerkriegswirren, scheiterte gründlich. Nein, das wären echte Dschinns und Dämonen, und die hätten es auf Menschen abgesehen, und überhaupt, alle sagen das. Diesem Argument war natürlich keine Vernunft gewachsen, zumal mir dabei wieder die Warnung des Mönches einfiel, vor den Gefahren in der "Stadt Sems". So fragte ich Amhar, ob irgendeine bestimmte Stadt in diesem Zusammenhang genannt würde. Nein, er wüsste nichts weiter, aber wir hätten besser die vier Magier danach fragen sollen, die hatten ja auch etwas von Geistern erwähnt. Die würden sicher mehr gewusst haben, und er hätte es gleich bedauert, dass wir solch eine günstige Gelegenheit, über dieses Thema Einzelheiten zu erfahren, verstreichen ließen.
Was also hielt uns hier? War es der Müßiggang, der jede Weiterreise nur immer ungewisser und strapaziöser erscheinen ließ? Da war das Funkeln goldener Sonnenflecken auf dem Boden, der Zauber verlassener Schlösser, ausgemalter Kirchen, naheliegende Besuche zu den Inseln des Tanasees oder den Felsenkapellen Lalibelas. Die Stunden der Nachmittage schienen immer bleierner zu werden, die Tage immer schneller dahin zu schrumpfen und das Ziel sich täglich in weitere Ferne zu entziehen.Eines frühen Morgens fanden wir uns, selbst überrumpelt im Bus nach Asmara sitzend. Unterwegs in Axum mussten wir uns von Amhar trennen, der uns längst ein Freund geworden war.
0-Chang, Bernd und Hermann fuhren gleich am folgenden Nachmittag nach Massawa weiter. Eine Schiffspassage für den Jemen zu finden, konnte noch eine Weile dauern. Im dringenden Fall wäre ich über das Hoteltelefon zu erreichen. Heimlich wünschte ich mir sogar, sie wären nicht so bald erfolgreich. Viel fehlte nicht und alle meine Pläne wären an diesem letzten Hindernis buchstäblich hängen geblieben. Ausgerechnet hier, der letzten Station vor dem Erreichen des Zieles, wo ich schon meinte alle Hindernisse längst hinter mir zuhaben. Nun, dieses war auch in keiner Weise zu vergleichen mit den bisherigen, selbst die Bezeichnung Hindernis war eigentlich recht unpassend. Ich hatte einen triftigen Grund, noch so lange wie möglich in Asmara bleiben zu wollen.
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