Hinter einer der zahllosen Kurven, von denen die dreiundfünfzigste ebenso aussah wie die erste, und die stets den gleichen Ausblick boten auf schroffen, erhitzten Stein mit ein wenig verdorrtem Gras und Gestrüpp dazwischen, welcher an der Felskante der nächsten Kurve unweigerlich endete, stoppte der Bus ruckartig und stellte sein Schnaufen ein. Alle sprangen auf und rannten nach vorn. Außer dem Summen von Fliegen war plötzlich nichts zu hören. Auf dem Schotter der Piste stand ein vom Rauch geschwärzter Bus. Eine Garbe Einschusslöcher im Blech oberhalb der Fensterreihe war als deutliche Perforationslinie zu erkennen. Am Straßenrand daneben hockten zwischen ihren Gepäckstücken einige Passagiere. Die ohne Gepäck oder mit nur wenigem, tragbaren hatten es vorgezogen zu Fuß weiter zu ziehen. Auch die Schiftas waren längst, wenn nicht über alle Berge, so doch über den nächsten, von wo ab es bereits ziemlich aussichtslos war, sie zu verfolgen. Sie waren diesmal politische, zum Glück der Passagiere. Niemand wurde beraubt, die Herren Wegelagerer gaben sich sogar zuvorkommend höflich. Jeder wurde über die hohen Ziele ihrer Bewegung aufgeklärt und Ortsfremde ermahnt, nicht mehr die Provinz Erithrea zu besuchen - jedenfalls solange sie noch nicht befreit wäre - durch die Vortragenden, versteht sich. Zum Abschluss durften alle dem Anzünden des Busses und dem Absingen einiger Befreiungslieder beiwohnen.
Die Passhöhe bot eine endlos anmutende Aussicht über die Semienberge bis auf den 4555 m. hohen Ras Dedschan. Wieder hinab ging es in eine weiträumige, liebliche Landschaft, eingefasst von den verschiedensten manchmal recht bizarren Bergformen wie Kegeln, Kuppeln, steil herausragenden Stiften und Zuckerhut ähnlichen Gebilden.
Wir waren seit dem Mittagessen in einem dieser kleinen Speiserestaurants noch nicht weit gekommen, als in einem kleinen Ort erneut ein längerer Aufenthalt angesagt wurde. Wegelagerer schieden als Ursache aus, diesmal war es einer der Passagiere, der, wie er überzeugt war, mit dem Recht an seiner Seite, sich weigerte zu zahlen. Aufs Ausgiebigste dargelegte Argumente standen in Aussicht, und man schickte nach einer Amtsperson. Die Wartezeit schien nicht in Betracht zu fallen, und ein Ende war bei weitem noch nicht abzusehen.
Vor einigen Häusern fiel uns ein Stab auf, gut sichtbar in die Erde gesteckt mit einem umgestülpten Becher darüber. Eher wissensdurstig näherten wir uns einer hinter Stab und Becher offenstehenden Tür. Eine Frau kam uns entgegen, Amhar brauchte nicht zu übersetzen, ihre Gesten waren unmissverständlich. Als wir den schlichten, weißgekalkten Raum betraten, sahen wir schon vier Männer an dem einzigen, langen Holztisch sitzen. Sie deuteten freundlich an, doch neben ihnen Platz zu nehmen. Der Becher auf dem Stab, übersetzte jetzt Amhar, bedeutete nichts anderes, als dass frischgebrautes Tedsch zum Ausschank bereit stünde. Der erzwungene Aufenthalt schien, wie so oft gerade das Unvorhergesehene, noch etwas bereit zu halten. Höchst verheissungsvoll funkelte das hereinfallende Sonnenlicht in der goldgelben Flüssigkeit der bauchigen, kleinen Flaschen mit dem engen Hals.
Tedsch sollte ein Honigwein sein, und seine Beschreibung erinnerte an die des alten, germanischen Mets. Neben den Flaschen standen kleine Emaillebecher. Ein Löwe war darauf abgebildet, der ein Kreuz schulterte und den unteren Balken mit der rechten Tatze umfasst hielt. Ein in den letzten Tagen häufig gesehenes Symbol, der "Löwe von Juda", Wappen des Landes und Titel seiner Kaiser.
Beim Anstoßen mit den vier Männern stellte sich heraus, dass einer Englisch sprach. Was als arglos gemütliche Plauderei angefangen hatte, sollte sich unerwartet zu einem immer fesselnderen Gespräch entwickeln. Anfänglich hatten wir sie, der sehr einfachen auf dem Lande üblichen Kleidung wegen, für schlichte Dörfler gehalten. Nun erschienen uns die Vier erstaunlich gewandt und von einer ungewöhnlichen Selbstsicherheit. So nahm das Unerwartete seinen Lauf, als wir beiläufig vermuteten, sie wären wahrscheinlich Kaufleute auf der Durchreise. Sie sahen sich kurz an mit sparsamen Lächeln, aber einem merkwürdigen Glitzern in den Augen. Anschließend musterten sie uns eine Weile nachdenklich, als gäbe es da irgendetwas zu überlegen.
„Nein“,
sagte gedehnt schließlich der Eine, immer noch mit diesem unerklärlichem Lächeln.
„Ich muss euch enttäuschen, ihr liegt mit eurer Vermutung weit daneben. Wir sind alle Vier Silberschmiede.“
Aller Augen richteten sich in diesem Moment auf Amhar, der von einem plötzlichen Unbehagen befallen, nervös auf der Bank hin und her rutschte. Die hereinbrechende Stille war ihm dabei alles andere als hilfreich. Bevor wir noch etwas zu seiner Beruhigung sagen konnten, setzte unser Gegenüber das argloseste Gesicht auf, um sich die Frage zu gönnen:
„Habt ihr eine Ahnung, warum euer Freund auf einmal so nervös wird?“
„0h ja“,
nahmen wir das Spiel auf,
„und wir wissen sogar noch mehr.“
„So, was denn?“
„Dass dazu absolut kein Grund besteht.“
„Und wieso nicht?“
wollte der Schelm unbedingt noch wissen.
„Weil es noch lange hin ist bis Sonnenuntergang“,
setzte 0-Chang drauf. In das allgemeine befreiende Gelächter konnte nun auch Amhar einstimmen.
„Aber das ist auch schon alles, was wir darüber wissen“,
mussten wir zugeben, nicht zuletzt in der Erwartung daraufhin mehr zu hören.
„Dann wisst ihr ebensoviel wie die meisten unserer Landsleute.“
„Wir würden gern so einiges mehr erfahren, wenn es euch nicht unangenehm ist?“
Wieder schauten sie uns eine Weile prüfend an.
„So, das würdet ihr? Das Problem ist nicht, dass es uns unangenehm sein könnte, sondern ob ihr bereit wäret ungewöhnliche Dinge zu hören. Ich meine auch solche, die sich schwer vertragen mit dem, was ihr zu glauben gewohnt seid, die sogar in der Lage sind den friedvollen Schlaf eures Weltbildes zu stören.“
Nach einer weiteren Musterung und kurzem Blickaustausch schienen sie zu dem Entschluss gekommen, uns solches zumuten zu können.
„Nun gut, dann fragt!“
„Wie kommt ihr zu diesem Ruf?“
Wollten wir als erstes wissen. Das wäre eine lange Geschichte und läge schon sehr weit zurück, aber wenn wir gewillt wären sie anzuhören, stünde dem nichts im Wege. Um diese Dinge Außenstehenden verständlich zu machen, müsste man folgendes vorausschicken:
„Die wahre Ursache“,
erklärte er,
„lag genau genommen darin, dass jeder der sich mit Dingen befasste, die seinen Mitmenschen unerklärlich waren, mit deren Spott, aber schlimmer noch mit deren Angst und Feindseligkeit rechnen musste. Daran hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. So wie die Dinge liefen, wurde eines Tages gemunkelt, die Schmiede wären Magier. Boshafte Nachrede allein war es nicht. Tatsächlich hatten einige von uns sich längst mit dem befasst, was man Magie zu nennen beliebt.“
So also sehen Magier aus, dachte ich, und betrachtete nachdenklich die braunen Gesichter, die mir jetzt auf einmal ganz andere zu sein schienen, als jene beim Eintritt in dieses Haus. Magier - so etwas gibt es doch nur im Märchen. Bislang hatten wir uns ebenso angestrengt wie vergeblich bemüht, Amhar an dieser fortschrittlichen Erkenntnis teilhaben zu lassen. Jetzt saßen wir selber gleich vieren gegenüber, die behaupteten solche zu sein, und waren unserer Sache nicht mehr so sicher. Noch vor kurzem hätte ich sie ohne weiteres für Bauern oder Hirten gehalten. Schlagartig wurde ich aus diesen Gedanken gerissen, überrumpelt von einer dräuenden Stille. Er hatte unvermittelt aufgehört zu erzählen, mitten in seiner Erläuterung. Dafür starrten alle Vier uns unbewegt an. Erst war ich verwundert, wohl auch etwas irritiert, wusste nicht, was das sollte. Meinen Freunden erging es offenbar ebenso. Dann schoss mir der Gedanke ein:
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