Vielstimmiges Gejohle ertönte zur Bestätigung. Als drinnen noch immer alles ruhig blieb, fuhr ich fort:
„Woran sind Sie denn erkrankt, sollte es das Gewissen sein?“
„Wohl weniger“,
korrigierte ich mich nach kurzem Nachdenken und überlegte laut weiter:
„Oder sind es die Verwünschungen der vielen Menschen, die Sie beschimpft, beleidigt, gedemütigt und obendrein noch bestohlen haben?“
„Ja, genau“,
kamen die Zurufe aus der Menge, gefolgt von einigen Schimpfworten, die ich nicht verstand, weil in Amharisch. Jetzt tat sich doch etwas an der Tür. Sie wurde einen Spalt geöffnet, um ein in der Tat sehr blasses Gesicht erscheinen zu lassen.
„Sagen Sie meinen Leuten, sie sollen Ihnen den gewünschten Vermerk in den Pass geben. Der Stempel liegt in der zweiten Schublade rechts, und lassen Sie mich bitte in Frieden."
Der Rest ging sehr schnell. Abdul strahlte schon seit gestern Abend über das ganze Gesicht. Aber als ich ihm den Wagen übergeben hatte und wir uns verabschiedeten, streifte er nur meine Handfläche, wie Orientalen es manchmal tun anstatt sie zu drücken, und legte die Hand anschließend an sein Herz mit einer angedeuteten Verbeugung.
Noch am selben Nachmittag wurde ich an der Zollstation mit einem Lastwagenfahrer handelseinig für eine Passage nach Asmara. Erst jetzt spürte ich, wie sehr das, was für die Anderen wie eine Posse ausgesehen haben musste, auch an mir gezehrt hatte. Unendlich müde, froh die Koje hinter dem Fahrersitz benutzen zu dürfen, aber auch mit dem Bewusstsein erst jetzt real hier zu sein, verschlief ich den längsten Teil der Fahrt.
Asmara bot einmal wieder die gewohnten Annehmlichkeiten der Zivilisation, darunter Restaurants mit italienischer Küche und originelle Kneipen. Meine drei Gefährten kannten sich schon bemerkenswert gut aus. Erstaunlich wie viel es zu erzählen gab, obgleich es nur zwei Tage waren, die wir uns nicht gesehen hatten. Lediglich über Verbindungen zum Jemen hatten sie noch nichts herausfinden können, außer dem Tipp, dass so etwas im Hafen von Massawa eher zu erkunden wäre. Ich machte mir darüber keine weiteren Gedanken, denn seit Tessinei war meine Zuversicht zur Gewissheit geworden, die wichtigsten Hindernisse bewältigt zu haben. Um den Wagen und den größten Teil der Ausrüstung erleichtert, blieb die Eingebung nicht aus, dieses auch einfacher hätte haben zu können. Die Vorstellung, unbehelligt gleich nach Asmara zu fliegen, war nicht nur inzwischen müßig, irgendetwas sagte mir auch, dass diese Abläufe ihre eigene Folgerichtigkeit hatten.
Seit Marsa Alam nämlich ließ so ein vager Verdacht mich nicht mehr los, etwas bahne sich da an, vorerst noch formlos und gar zu ungewohnt, um für mich fassbar zu sein. Viel zu gebunden war auch mein Bewusstsein an gewohnte Denkmodelle und viel zu beschäftigt mit Überlegungen, wie verschiedene Hindernisse zu überwinden wären. Auch mag ja der Verstand für allerlei Kunststückchen sich als ganz behände erweisen, aber nicht selten ist gerade er es, der bei wirklich entscheidenden Veränderungen hinterherhinkt. Und so war mir vorerst nur ein wenig mulmig, eine leichte Verunsicherung, die mangels greifbarer Fakten kaum beachtet beiseite geschoben wurde. Nur mählich und schrittweise begann ich zu begreifen, was wirklich geschah, dass seit Marsa Alam parallel für mich schon längst eine zweite Reise ganz anderer Natur ablief, von der ich nicht mehr zurückkehren sollte. Jedenfalls nicht als der, der sie angetreten hatte. Aber was da wirklich geschah, und rückblickend einen erstaunlich folgerichtigen Ablauf erkennen ließ, begriff ich erst Jahre danach. Auch mag dies der Grund dafür gewesen sein, warum ich diese Aufzeichnungen erst dreißig Jahre nach ihrem Geschehen abschloss.
Geschichten und deren Verdichtung
Stunde um Stunde drangen wir tiefer ein, in ein wildes, bizarres Land. Schroffe Berge von mondartiger Kargheit, alles versengende Hitze, zähe, von der Sonne gegerbte Bewohner. Wir wussten nur soviel: Wir waren irgendwo zwischen Asmara und Axum, aber auch das waren nicht viel mehr als Namen. Nicht einmal die Farbe des Himmels vermochten wir zu erkennen. Da war nur ein unendliches Gleißen und rings umher verbranntes Land.
Dennoch hätte unter all dem Befremdlichen eines uns aufschrecken müssen: Wir fuhren in die falsche Richtung. Seitdem der zweite Wächter glücklich überwunden, waren keine Hindernisse mehr auszumachen auf dem Weg zu unserem zuvor doch so hartnäckig verfolgten Ziel. Von Asmara hätten wir in bequemen drei Stunden Massawa erreicht, um dort nach einer Passage zum gegenüberliegenden Jemen Ausschau zu halten. Stattdessen saßen wir hier, kaum einer Bewegung fähig, eingekeilt zwischen anderen schwitzenden Leibern und vibrierenden Blechen, auf einer schier endlos anmutenden Fahrt in die entgegengesetzte Richtung. Es kam uns noch nicht einmal in den Sinn, daran etwas merkwürdig zu finden. Wieso taten wir das? Zwar meinten wir, schon einmal hier, uns noch ein wenig mehr von Äthiopien ansehen zu müssen, die Wahrheit aber war, wir wussten es selber nicht, es geschah mit uns. Ganz unversehens befanden wir uns bereits mitten drin. Irgendwann hatte ich den Faden dieser Reise aus den Händen verloren. Einfach so. Eigenartigerweise war ich überhaupt nicht beunruhigt darüber. Und so entfernten wir uns immer weiter von unserem vermeintlichen Ziel, immer weiter in ein seltsames Land, nicht ahnend, dass wir schon angekommen waren, denn es sollte sich als ein Bestandteil unseres Zieles erweisen. Ohne es zu wissen waren wir an jenem Punkt angelangt, wo man den Dingen nur noch ihren Lauf zu lassen brauchte.
Der nächste Halt sollte Adua heißen. Äußerlich erwies es sich als ein nichtssagendes Nest. Ein paar Feldsteinhäuser mit Wellblechdächern zogen sich den Hang hinauf, dazwischen Mauern aus aufgeschichteten Steinen. Der Name war es, der dem Ort Gewicht verlieh. Unmöglich sich berühmten Stätten ohne vorgefasste Bilder zu nähern. Nahe dieses Städtchens, in der grünen Mulde am Fuße mächtiger Berge, wurde 1896 eine waffentechnisch haushoch überlegene, europäische Armee vernichtend geschlagen. Kaiser Menelik II. hatte es zuvor fertig gebracht die Stämme und Völker des Reiches zu einen, um dieser Bedrohung von Außen zu begegnen. Zwar besaßen die Äthiopier einige Gewehre, aber die meisten sollen noch mit Schwertern und Lanzen gekämpft haben. Zuvor hatten geschickte Scheinangriffe und kleine Überfälle ständig die Italiener genervt und zu strapaziösen Märschen in wildem Berggelände genötigt mit stets frustrierendem Ausgang. Sie hatten einzig den Zweck, den Feind zu ermüden und zu zwingen immer mehr seiner schweren Waffen einschließlich der gesamten Artillerie zurückzulassen. Meneliks listiger Feldherr Ras Alula hatte es auch verstanden, dem italienischen Stab unentwegt irreführende Informationen über Stärke und Standort der Äthiopier sowie über die Wegeverhältnisse zukommen zu lassen. Bei der überraschend aufgezwungenen Entscheidungsschlacht sahen sich die Italiener überrumpelt von einem Gegner, der sie mit der Wildheit von Raubkatzen anfiel.
Der Sieg war total und muss für ganz Afrika das Ereignis gewesen sein. In dieser Nacht hielt man in Europa den Atem an ob der unfassbaren Nachricht. In Äthiopien brannten auf allen Bergen Freudenfeuer. Die Buschtrommeln dröhnten für etliche Tage und Nächte, bis es der ganze Kontinent wusste: Es gibt Hoffnung, der weiße Mann wurde besiegt in den Bergen Habaschas. Menelik selbst schickte Boten nach London, die für ihn um die Hand von Königin Victoria anhalten sollten. Man kann sich die Gesichter im Buckingham-Palast und das Antwortschreiben ausmalen.
Auf dem Platz von Axum angelangt, drehte der Bus noch eine müde Schleife, bevor der Motor zum Stillstand kam, und mit ihm auch das alles durchdringende Vibrieren.
Читать дальше