Am Geburtstagsmorgen Hertha zunächst in die oberen Gemächer verbannt, wo sie endlos telefonierte. Heinrich erklärte: Wegen ihrer Asylarbeit. Er setzte hinzu: Wenigstens heute könnte sie doch ...! Er sprach seine Kritik nicht bis zu Ende, schüttelte ärgerlich den Kopf. Heinrich in einem dunklen Anzug mit Weste, Schlips und weißem Hemd, volles weißes Haar, kleiner Schnurrbart, sehr blauäugig. Wie hübsch er aussah! Seine Nichte schon aus Tübingen angereist und tätig.
Eine sehr ansehnliche, schlanke Frau Ende vierzig. In zwei Körben hatte sie alles Notwendige für ein außerordentliches Frühstück mitgebracht. Heinrichs Hände zitterten noch mehr als sonst. Offenbar war seine Anspannung groß, dass alles richtig gemacht wurde und der morgendliche Festakt ordentlich verlief. Dennoch beharrte er gegenüber der Nichte auf dem gewohnten Teil seiner Hausarbeit. Ihr war schon am Abend aufgefallen, wie Heinrich mithalf, den Tisch abdeckte, den Geschirrwagen in die Küche fuhr. Sehr langsam ging er, setzte Fuß vor Fuß. Geduld brauchte es, das mit anzusehen. Nie hätte sie Hertha Geduld zugetraut. Geradezu pädagogische Fähigkeiten bewies sie im Umgang mit Heinrich.
Durch die geöffnete Glastür am Eingang des zweigeteilten großen Raums sah sie Hertha die Treppe herunterkommen. Als sie eintrat, blickten alle auf sie. Sonst in langen, weiten Gewändern, mit schwerem Silberschmuck behängt, erschien sie heute in einer Bluse aus sicher sehr edlem Material zu gut geschnittenem, langem Rock. Sie sah aus wie im Sonntagsstaat, bürgerlich. Aber auch im Sonntagsstaat beeindruckte sie. Und dass sie wegen eines Rückenschadens etwas gekrümmt und manchmal fast schwankend lief, minderte den Eindruck nicht.
Hertha blickte auf die festlich gedeckte Tafel in dem zum schmalen Garten hin gelegenen Teil des Raums. Hübsch habt ihr´s gemacht. Ich dank euch!, sagte sie, ging zur Barockkommode, die den besten Platz im Raum hatte, an der Stirnseite neben der Glastür zum Garten. Die Barockkommode eine der beiden mobiliaren Kostbarkeiten. Vorn am Eingang ein großer, schwerer Schrank. Auf der Kommode Blumen und die ersten Geschenke. Ihres ein Bildband. Was konnte man einer Verwandten, auch für hiesige Verhältnisse wohlhabend, schon schenken, kam man von drüben!
Sie sagten Hertha ihre Glückwünsche, die umarmte sie, was sie sich mit stiller Rührung gefallen ließ. Diese Gefühlsäußerung der sonst eher herrscherlichen Frau für sie neu.
Es klingelte. Die Nichte stand auf.
Paul!, sagte Hertha, erklärte Paul sei zum Frühstück eingeladen, brächte für nachmittags Kuchen mit. Seine Frau eine Schwester aus Herthas altem Krankenhaus.
Paul begrüßte Hertha. Viel Glück und Gesundheit!, sagte er.
An seiner Seite seine kleine finster blickende Tochter. Wie ein Bub!, meinte Hertha.
Das Frühstück konnte beginnen. Kaffee, Tee wurden ausgeschenkt. Die Kleine trank Milch. Kaum hatte Hertha einige Bisse getan, musste sie schon zur Barockkommode, um ein Spielzeug für das Mädchen zu holen, kramte, trug dann über der Hand, der Arm hochgereckt, eine hölzerne Schlange, deren Glieder sich durch ein stark haftendes Band endlos bewegte. Die Schlange machte die Runde, ehe es das Mädchen bekam, das sich auch durch diese Gabe zu keinem Lächeln verleiten ließ. Das Telefon läutete. Und noch einmal und immer wieder. Das Essen, für Hertha offenbar sowieso eher eine Nebensache, geriet ihr ganz aus dem Gedächtnis. Wieder endlose Gespräche. Heinrich leicht genervt. Er hielt es anscheinend für notwendig, dass Hertha aß und trank. Sie bediente sich von den Herrlichkeiten auf dem Tisch. Vergewisserte sich, dass man nicht nach ihr schaute. Allgemein aß man sehr mäßig, sie aber nun gar nicht bei einem solchen Angebot. Das war wohl hier so, dass man hatte, aber nicht ausgab. Wie die Großmutter von ihrer Kindheit erzählt hatte. Es sei in besseren Kreisen verpönt gewesen, viel zu essen. Sie nicht angepasst, so dass sie leicht ins Hungern kam und ins Frieren.
(Die Gasheizung im Gartenhäuschen hatte sie trotz ihres Fröstelns nach langem Abend nicht höher zu stellen gewagt. Herthas Satz, so warm müsse man es ja nicht haben, hatte sie davon abgehalten.)
Sie begann mit Paul ein Gespräch. Ist das Ihr richtiger Name?
Ja. Paul sagte seinen Namen, er klang wie Paule oder Paulo.
Wir wohnen in Kerala. Ganz im Süden. Dort leben Christen viele Jahrhunderte. Wenn Tochter in Schule kommt, wir gehen zuruck. Un Sie können nischt überallhin in Welt reisen?, fragte Paul mitleidig.
In meinem Beruf noch eher, antwortete sie ausweichend. Sie war gegen Mitleid empfindlich. Aber wenn Sie im Süden wohnen, wie kommt es, dass Sie eine so helle Haut haben?
Ja, das gibt es, sagte Paul. Helle Haut, dunkle Haut.
Doch grüne Augen! Ein einziges Mal sah sie ganz unverhohlen in diese Augen.
Paul lachte. Das ischt sehr, sehr selten. Mein Vater un mein Großvater hatten solsche Augen. Un isch. Aber nischt meine Tochter un nischt mein Sohn.
Die Tafel wurde aufgehoben. Hertha hatte ihren kalten Kaffee dann doch getrunken, ihre Scheibe Brot gegessen.
Paul nun ein weiterer hilfreicher Geist, um Speisen und Geschirr in die Küche zu bringen und zu verstauen. Er sowieso derjenige, der das Haus sauber hielt. Alles Geld, das seine Familie bekam, konnte helfen. Und Hertha und Heinrich machten aus jeder Beziehung eine Freundschaft. Eigentlich Hertha. Es war ihre besondere Fähigkeit, Menschen um sich zu sammeln. Heinrich tat mit.
Die Türklingel schellte. Die Nichte brachte eine Dame herein. Hertha stellte vor: eine Angestellte der Filialbank, in der Hertha und Heinrich ihre Konten führten. Die Bankangestellte überreichte Hertha einen großen Strauß Blumen und gab das Geschenk der Bank des festlichen Anlasses wegen bekannt: Alle wegen eines kürzlich aufgenommenen Kredits anfallenden Arbeiten würden umsonst geleistet.
Isch des nich nett, Heinrich!, sagte Herta, offenbar gewillt, sich an diesem Tag über jedes Geschenk zu freuen. Die Bankangestellte wurde zum Bleiben genötigt und mit dem besonderen Gast von drüben bekannt gemacht. Meine Cousine aus Ostberlin, sagte Hertha.
Ach ja?... Kürzlich hatten wir Verwandte aus Halle in der DDR zu Besuch! Die Bankangestellte sagte es so, als wolle sie mit einer eigenen kleinen Errungenschaft auch nicht hinter dem Berg halten. Ach, wie wir mit ihne durch die Geschäfte gegange sin, un sie haben die Dinge gesehe, die man zum Baue braucht. Sie baue nämlich. Sie haben alte Möbel. Drüben in der DDR hat man das. Darum baue sie sich ein Haus. Aber an allem isch Mangel.
Erwiderung war verlangt. Ja, das ist schon so, gab sie zu.
(Als mache sie sich selbst klein, wenn sie einräumte, sie käme aus einem solch ärmlichen Land.)
Un denke Sie: Meine Verwandte ware seit vierzig Jahre zum erschte Mal in Deutschland!
Sie sah auf die Angestellte der Filialbank, sah dann auf Hertha, Heinrich, die Nichte. Offenbar hatte sie richtig gehört. Und alle schienen damit einverstanden, dass es nur dieses eine Deutschland gab, nämlich das, in dem sie lebten. Obwohl doch Hertha und Heinrich so aufgeklärt waren, tolerant, aufgeschlossen, eben das alles. Aber wo leben wir dann für sie?, dachte sie. Beginnen die russischen Weiten bis zur Taiga hin in der Vorstellung dieser Menschen schon gleich hinter dem Eisernen Vorhang?
Etwas später machte der Verwaltungsdirektor des Krankenhauses, in dem Hertha gearbeitet hatte, seine Aufwartung. Auch ihm wurde die Cousine vorgestellt. Hertha vereinfachte die Verwandtschaftsbeziehung. Vielleicht war im Schwäbischen die Vereinfachung auch üblich. Der Verwaltungsdirektor von körperlichen Ausmaßen, die eine gebührende Stellung erwarten ließ, zeigte sich ebenfalls sehr wohlwollend. Zum Abschied bekam sie fest die Hände gedrückt.
Und nutzen Sie jede Stunde, sagte er eindringlich. In Freiheit, ergänzte sie für sich. Sie befand sich wohl in der Lage eines Freigängers. Mach ich, sagte sie. Ja, sie hat sich sehr viel vorgenommen, bestätigte Hertha.
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