„Hat sie auch zugestimmt? Sie spricht doch nicht.“
„Ja, wir haben ihr eingehend verdeutlicht, dass sie im Frauenhaus Schutz finden würde und sie gefragt, ob sie dort Zuflucht finden möchte. Daraufhin hat sie mehrfach genickt. Stimmt´s Alouette? – Das war doch so, du hast genickt!“, wiederholte Helga mit lauter Stimme und blickte Ali aufs Gesichtsgitter. Gehorsam bewegte Ali seinen Kopf unter der Verhüllung auf und ab.
Erika runzelte die Stirn. „Na ja., wir werden gleich mehr wissen. Wir haben hier eine Flüchtlingsfrau wohnen, die ein ähnliches Schicksal hinter sich hat, wie angeblich diese Alouette. Sie heißt Samira und kommt aus dem ländlichen Absurdistan. Auch sie hat sich den Befehlen ihres Ehemannes widersetzt und wurde daraufhin von ihm geschlagen. Allerdings bekam sie Schläge, weil sie ihren Schleier abnahm und hier in Deutschland ein freies Leben führen wollte. Ich ruf sie mal her. Ach ja, nachdem das Ganze ziemlich kompliziert zu sein scheint, hole ich auch noch Gerda, meine Mitarbeiterin und Elke die Praktikantin dazu.“
Regungslos hatte Ali dem Gespräch gelauscht. Nur mit Mühe konnte er sich zurückhalten, gegen all die Lügen zu protestieren, die Helga und Lydie der Hausherrin erzählten. Um sich zu beruhigen, sprach er rosenkranzartig in Gedanken: ´Ich darf mich nicht verraten, sonst werde ich abgeschoben. Nur wenn ich still bin, kann ich in diesem Land bleiben und bekomme zweiundsiebzig Jungfrauen. Ich darf mich nicht verraten, sonst werde ich abgeschoben. Nur wenn ich still bin, kann ich in diesem Land bleiben und bekomme zweiundsiebzig Jungfrauen ...`
Plötzlich ertönte Erikas Stimme mit den Worten: „Darf ich vorstellen: Gerda und Elke.“ Angestrengt durch das Stoffgitter blickend, erkannte Ali, dass zwei Frauen eingetreten waren. „Das sind Lydie und Helga von der Flüchtlingsunterstützergruppe mit ihrer orientalischen Frau. Setzt euch zu uns. Wir führen gerade das Aufnahmegespräch. Es ist recht kompliziert, weil die Frau nicht sprechen kann und voll auf ihre Traditionen fixiert ist. Samira kommt auch gleich, ich hoffe, sie kann uns weiter helfen.“
Gemeinsam traten Gerda und Elke an die Sitzecke heran. Da Lydie ihnen sofort erklärte, dass die orientalische Frau ihre Stimme verloren habe und Ungläubigen keine Hand gäbe, nickten sie Ali nur kurz zu und sagten: „Hallo, herzlich willkommen in unserem Haus.“
Ali nickte artig zurück. Soviel nahm er nun wahr: Elke, die Frau mit den langen, blonden Haaren und der anmutigen Figur, musste eine der schönen Jungfrauen sein, die im Frauenhaus auf Helden wie ihn warteten. Gerda, die andere Frau, kam mit ihren kurzen Beinen und dem langen Hals als Frauenhausjungfrau jedoch nicht in Frage. Zu seiner Freude setzte sich die blonde Elke neben ihn auf die Couch und blickte interessiert auf ihn.
Erneut drang Erikas Stimme an sein Ohr. „Darf ich vorstellen: Samira. Samira, das sind Helga und Lydie von der Flüchtlingsunterstützungsgruppe der < Anti -rassistischen sozialistischen cooperativen Heilsfront>“. Ali drehte den Kopf und entdeckte eine weitere wunderschöne an der Tür stehen. Ebenso wie die erste war diese mit einer Jeans bekleidet, in der das gebärfreudige Becken anregend zur Geltung kam. Zu seinem Erstaunen glänzte die Haut dieser zweiten ähnlich dunkelbraun wie seine Eigene.
„Samira, wir brauchen dich“, sprach Erika weiter. „Diese total verhüllte Frau soll bei uns einziehen, aber Einiges ist noch unklar.“
Schnellen Schrittes ging Samira auf die Sitzenden zu. Dabei wippten ihre wohlgeformten Brüste unter dem eng anliegenden Sweatshirt so deutlich auf und ab, dass es Ali selbst durch das Gesichtsgitter hindurch wahrnehmen konnte. „Wau!“, entfuhr es ihm.
„Moment mal“, sagte Erika verdutzt, „die Frau hat was gesagt!“
„Ja, wirklich?“, versuchte Helga abzuwiegeln und Lydie ergänzte: „Ich habe sie nur tief schnaufen hören.“
„Ich bilde mir ein, dass sie mit dunkler Stimme gesagt hat“, meinte Gerda und nickte Erika zu.
„Was will diese Frau überhaupt bei uns?“, fragte Samira und setzte sich zu Erika.
„Sie musste aus ihrer Heimat flüchten, wie so viele“, erklärte Helga mit Nachdruck. „Und hier in Deutschland wurde sie von ihrem Mann brutal geschlagen, deshalb sucht sie im Frauenhaus Zuflucht.“
„Weshalb musste sie denn flüchten? Woher kommt sie?“
„Das wissen wir nicht genau“, erklärte Lydie. „Die Frau hat ihre Stimme verloren.“
„Wir wissen aber“, fügte Helga noch schnell an, „sie kam mit ihrem Mann, der zum Christentum übergetreten ist, nach Deutschland. Weil sie hier ihre Burka nicht abnehmen will, hat er sie mehrfach geschlagen.“
Samira runzelte die Stirn. „Die Frau ist mit ihrem Mann geflüchtet, obwohl sie selbst nicht zum Christentum übertrat?“
Helga nickte. „Ja, sie wollte ihrem islamischen Glauben und ihrem Ehemann treu bleiben.“
„Hm, klingt sehr seltsam. So etwas kann in einem islamischen Land eigentlich nicht vorkommen.“
Eindringlich sah Samira auf Alis Gesichtsgitter und sagte für Ali unverständlich: „Hal Aaffaa mina?“
„Hm, sie scheint mich nicht zu verstehen“, merkte Samira an, nachdem von Ali keine Reaktion kam.
„Was hast du zu der Frau gesagt?“, fragte Helga skeptisch. „Wir sollten sie nicht verunsichern, sie hat schon genug mitgemacht.“
„Ich habe nur auf Arabisch gefragt, ob sie mich verstehen kann“, erklärte Samira.
„Wie gesagt“, entgegnete Helga, „sie hat ihre Sprache verloren und ist stumm. Aber einfaches Deutsch scheint sie zu verstehen.“
„Hallo, kannst du mich jetzt verstehen?“, fragte Samira und sah auf Alis Gesichtsgitter.
Umgehend nickte dieser mit dem Kopf.
„Oh, sie versteht wirklich deutsch,“ bemerkte Erika. „Aber arabisch versteht sie nicht.“
„Das wäre wohl auch ein großer Zufall“, sagte Lydie, „bei all den Sprachen, die im Orient gesprochen werden.“
„Na ja, sehr viele Menschen im Orient sprechen arabisch“, entgegnete Samira und wandte sich wieder an Ali: „Dein Mann hat dich geschlagen?“
Dieser nickte.
„Weil er zum Christentum übergetreten ist und wollte, dass du deine Burka abnimmst?“
Ali nickte erneut.
„Aber hier kannst du die Burka abnehmen. In dem ganzen Haus sind nur Frauen - kein Mann wird je das Haus betreten.“
´Keine Männer im Haus?` dachte Ali. ´Es stimmt also tatsächlich, was mir die Verrückten im Bus erzählt haben.` Nur mit Mühe konnte er einen Freudenjauchzer unterdrücken.
„Hast du gehört, Alouette?“, drang Erikas strenge Stimme an sein Ohr. „In unserem Haus brauchst du keine Burka!“
Sofort mischte sich Helga ein: „Ich finde wir sollten die Frau nicht zwingen, unverhüllt ihren Körper zu präsentieren. So viel Respekt vor ihrer Religion muss schon bleiben.“
Samira warf Helga einen ernsten Blick zu. „Wenn weder Männer anwesend sind noch die Gefahr besteht, dass Männer hinzukommen, darf jede islamische Frau ihre Verhüllung abnehmen.“
„Sie wird es nicht wollen, wenn sie geschlagen wurde und sie sich ihrer Narben schämt“, entgegnete Helga.
„Gerade dann ist es sogar unsere Pflicht, sie anzusehen“, erklärte Erika mit ernster Mine. „In schweren Fällen schalten wir eine Ärztin ein, die die Verletzungen begutachtet, dokumentiert und medizinische Maßnahmen ergreift.“
„Das dürft ihr aber nicht gegen den Willen der geschundenen Frau tun!“
„Wir können es aber zur Voraussetzung machen, wenn sie aufgenommen werden will!“
„Fragen wir sie doch einfach selbst, meinte Samira. „Willst du deine Burka ausziehen?“
Ali, der Helgas Worte richtig gedeutet hatte, schüttelte heftig seinen Kopf.
Читать дальше