Für Enwei und Anna Katharina
In diesem drangvollen Roman schildert der Protagonist Phillip Walter seinen turbulenten Weg, sein wahres Ich in aller Konsequenz zu leben. Unabhängig davon, was andere von ihm erwarten. Hochaktuell setzt er damit einen der größten Träume von Menschen um. Zentrale Themen wie die Suche nach der eigenen Wahrheit, Begabung und Sensibilität, Liebe, Sexualität und Glauben, aber auch Tod, Einsamkeit, Angst oder Trauer werden mit einer bisweilen fast schockierenden Offenheit thematisiert. Wie ein Kulminationspunkt schafft dieses gehaltvolle und nahezu physisch packende Werk ein ungefärbtes Spiegelbild unserer gesellschaftlichen Gegenwart und menschlichen Verfassung. Die frappierende Authentizität inspiriert, furchtloser nach seiner eigenen Definition erfüllt zu leben.
„Dieses atemberaubende und schonungslos offene Buch macht Mut und inspiriert, den persönlichen Schlüssel für eigene verschlossene Tore zu suchen – und auch zu benutzen!“
Anne Heintze, OpenMind Akademie
Andreas Tank wurde 1979 im ostwestfälischen Lemgo geboren. Seit 2006 lebt und arbeitet er in der chinesischen Hauptstadt Peking. Nach zahlreichen Fachpublikationen, darunter die Werke China-Marketing und Zwischen Faszination und Furcht, ist Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen sein erster Roman.
(c) 2013 Andreas Tank
Satz und Layout: Peter Tichauer, Peking
Umschlaggestaltung: Sven Schäfer, P3andmore, Bad Sobernheim; mit freundlicher Genehmigung von Auerhahn Bestecke GmbH, Im oberen Tal 9, 72213 Altensteig
Druck und Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
ISBN 978-3-8442-5098-5
Andreas Tank
Das Blaue vom Himmel mit Löffeln gefressen
Roman
epubli
Die anderen werden Dich immer kritisieren und über Dich lästern und es ist nicht einfach, jemanden zu treffen, der Dich so nimmt, wie Du bist. Deshalb: Leb so, wie Du es für richtig hältst, und geh, wohin Dein Herz Dich führt. Das Leben ist ein Theaterstück ohne vorherige Probe. Darum: Singe, tanze, lache und lebe jeden einzelnen Augenblick Deines Lebens ..., bevor der Vorhang fällt und das Theaterstück ohne Applaus zu Ende geht.
Charlie Chaplin
„Ich möchte doch nur einmal normal sein!“ Warum schien dieser Wunsch so aussichtslos und jedes Festhalten vergeblich? Aber wer war das: ich? Dieses Ich namens Phillip Walter, das eines Tages in den Spiegel blickte und keinen mehr erkannte. Wie nach einem Urknall hatte sich plötzlich alles, was zuvor mein Lebensfundament bildete, aufgelöst: Traditionen, Konventionen, Religion, Standpunkte, Beruf und Lebensmittelpunkte, ja selbst meine Sexualität. Keine Orientierung irgendwo – im Gegenteil: Was mich bislang besonders geprägt hatte, stellte ich nun am stärksten infrage. Zurück auf null. Nochmal von vorn. Mit welchen wahren Anlagen war ich auf die Welt gekommen? Wo setze ich an? Was schmeiße ich über Bord? Alles Bisherige musste neu überdacht werden. Es gab keine heiligen Kühe mehr, keine Drachen, an deren Schuppen tausendjährige Werte glänzten. Wo war meine Entschlossenheit hin, wo meine Stärke, mein Optimismus und meine Fröhlichkeit, die mich 29 Jahre lang begleitet hatten, die für meine schwungvolle Entwicklung samt zweier Doktortitel gesorgt hatten? Von einem auf den anderen Moment war ich orientierungslos, fühlte mich wie ein Kleinkind, das versuchte, wieder erste Schritte zu gehen. Wie ein Erwachter oder Neugeborener musste ich mein Leben völlig von vorn beginnen und ihm wieder einen Sinn geben.
Tief im Inneren, so spürte ich, lag die Antwort, doch ich hatte die Fähigkeit verloren, in mich zu hören und die vielen dissonanten Stimmen in eine Harmonie zu überführen. Stattdessen herrschte – je nach Verfassung – ein inneres Machtvakuum, ein anarchischer Krieg, eine Achterbahnfahrt. Vielleicht begegnete einem das Schicksal auch nur auf dem Weg, wo man es zu vermeiden suchte? Ich fühlte mich allein auf weiter Flur, da war in meinem Umfeld weit und breit niemand, der Ähnliches durchlebt hatte, der mir als Vorbild dienen konnte, ich verspürte tiefe Einsamkeit. Vorbilder hatte ich nie gehabt – von Sympathien für Sophie Scholl und Albert Schweitzer abgesehen –, und mir wurde klar, warum: Tief in mir wusste ich, dass niemand mir ein adäquates Lebensmodell vorleben konnte, auch wenn mein Verstand danach gierte. Im Vergleich mit anderen sah ich zunächst, dass ich irgendwie anders war, und quälte mich mit der Frage nach dem Warum. Warum sollte ich der Einzige sein, der diese Erfahrungen machte? Statt meine Andersartigkeit zu akzeptieren und zu hinterfragen, woher sie kommt, machte ich mir selbst Vorwürfe, zermarterte mein Hirn, was bei mir falsch war, und glaubte lange, mich für mein Wesen entschuldigen zu müssen. Wie viele Menschen gibt es, die dieses Grundgefühl, ohne Lebensrecht zu sein, nachvollziehen können? Andere träumten davon, durch Talente aufzufallen, während ich vom unauffälligen Gleichsein träumte!
Kein Mensch des Geistes, sondern ein Mensch der Tat – Teil der Mehrheitskultur. Zwar hatten mich meine Eltern schon früh dahingehend erzogen, meinen „Hirtenkopf“ zu benutzen, anstatt wie ein gutes, aber dummes „Schaf in der Herde der vielen“ (Hesse) zu grasen, gleichwohl widerstrebten mir Stellungnahmen der Art, dass das Durchschnittliche der Welt ihren Bestand gäbe und das Außergewöhnliche ihren Wert (Wilde). Mit Befremden las ich Karl Lagerfelds Ausspruch, dass die einzige Meinung, die ihn wirklich kümmere, seine eigene sei. Bei Hesse fand ich meinen inneren Konflikt am genauesten beschrieben: „zwischen Ich und Welt, zwischen Geist und Instinkt, zwischen dem Drang nach Selbstvernichtung und der Sehnsucht nach Selbstentäußerung“, was letztlich „Spannungen“ erzeugt „zwischen den seelisch-geistigen Energien des Menschen und den pervertierenden und paralysierenden Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft“. Irritierend positiv schreibt Rilke dagegen, wie gut das Leben sei, wie gerecht, unbestechlich, nicht zu betrügen: Auch durch Kraft nicht, auch durch Willen nicht, nicht einmal durch Mut. Alles bliebe, was es ist, und habe nur diese Wahl: sich zu erfüllen oder sich zu übertreiben.
Zuvor auf dem Scheitelpunkt der Normalverteilungskurve surfend, glitt ich nun die Welle herab und geriet in unberechenbare Strudel: Ich sollte zu den zwei Prozent Hochbegabten und als „INFJ“ nach dem Myers-Briggs-Typindikator – bei Männern weniger als ein Prozent – zum seltensten Typ gehören. Im Enneagramm, einer überlieferten Persönlichkeitstheorie der Sufi-Lehre, wandelte ich mich währenddessen von einer extrovertierten Sieben zu einer introvertierten Fünf, allein unter den Hochsensiblen durfte ich mich immerhin zu 20 Prozent zählen. Egal welche Erhebungen ich anstellte, um die Durchschnittsprozentuale meiner Erscheinung herauszufinden – vom chinesischen Geburtshexagramm über ein graphologisches Gutachten bis hin zu einem astrologischen Lebenshoroskop –, die Verwandlung schritt ungehindert voran und entfernte mich immer mehr von dem konservativen Menschen, für den ich mich zuvor gehalten hatte und dessen Lebensplan mit 30 Jahren eine Freundin aus heilem Elternhause mit allen erstrebenswerten Attributen vorsah. Für einen Hypochonder wie mich sollte die Traumfrau am besten Ärztin sein, Hand in Hand wären wir spazieren gegangen, hätten die Zweisamkeit genossen, schließlich geheiratet – die Musikselektion für die Hochzeit hatte ich schon vorgenommen –, eine Familie gegründet und drei Kinder bekommen, deren Namen internationalen Markennamen gleich, in möglichst vielen Ländern leicht auszusprechen sein müssten. In meiner Fantasie sah ich mich weit in der Zukunft mit Enkelkindern, die um mich herumtollten. Von hier war es nicht mehr weit zur Todesanzeige in der FAZ, der letzten Quittung. Wie beherrscht ließe sich ein Leben führen, wenn man das Ende kannte und die Jahre dazwischen bis zur Perfektion durchplanen könnte! Erst heute weiß ich: Die Tür zur Zukunft ist die Gegenwart. Mir selbst erschienen meine Vorstellungen nah und umsetzbar, doch im Rückblick handelte es sich um realitätsfremde, naive Gedanken. Und so war ich überfordert, als Avancen mit sämtlichen Anforderungen nicht übereinstimmten. Was nun? In meinem Regierungskabinett gab es keinen Minister für innere und äußere Herzensangelegenheiten. So musste mein falsches Selbst eines Tages eine Grenze erreichen, hinter der es kein weiteres Wachstum „unter Piratenbeflaggung“ geben konnte.
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